Der Dalai Lama im Bundeshaus: Die höchste Schweizerin über ihr Treffen mit «Seiner Heiligkeit».
So viele Menschen in der Schweiz freuten sich mit mir, dass «Seine Heiligkeit», der Dalai Lama, erstmals offiziell im Bundeshaus empfangen wurde. Ich erhielt viele Mails, Briefe und SMS und direkte Rückmeldungen aus der Bevölkerung auf den Besuch des Dalai Lama. Und sie waren allesamt sehr positiv.
«Seine Heiligkeit» war schon häufig in der Schweiz, über 30-mal, und sprach schon häufig mit Nationalratspräsidentinnen, Parlamentariern und auch Bundesräten. Aber er war eben noch nie im Parlamentsgebäude. Dieser Besuch war insbesondere für die tibetische Gemeinschaft in der Schweiz ein ermutigendes Symbol. Dieser Ausdruck der Solidarität der Schweiz gegenüber dem tibetischen Volk ist gerade in der aktuell sehr schwierigen Situation in Tibet wichtig.
«Der Dalai Lama ist ein extrem präsenter Mensch, er lebt den Moment, er ist regelrecht im Moment.»
Dass gerade ich ihn ins Bundeshaus einladen und dort empfangen durfte, war ein schöner Zufall. Ich reiste bereits Anfang der 1980er-Jahre nach Tibet und lernte dort die tibetische Kultur, die liebenswürdigen Menschen und die atemberaubende (im wahrsten Sinne des Wortes!) Landschaft lieben. Als ich 2001 für Ruth Gonseth in den Nationalrat nachrückte, war es für mich daher klar, dass ich von ihr auch das Engagement in der parlamentarischen Gruppe Schweiz–Tibet übernehme.
Vor genau zehn Jahren fuhren wir mit dieser Gruppe nach Dharamsala in Nordindien, wo wir das tibetische Exil-Parlament besuchten. Dort traf ich auch zum ersten Mal den Dalai Lama. Später noch zwei weitere Male bei seinen Aufenthalten in der Schweiz.
Er ist eine faszinierende Persönlichkeit. Weltweit hoch geachtet, verehrt und geehrt für seinen unermüdlichen Einsatz für Frieden, Gewaltlosigkeit und Mitmenschlichkeit. 1989 bekam er dafür den Friedensnobelpreis.
«Wir leben für das Haben, der Dalai Lama für das Sein.»
Doch was fasziniert mich immer wieder an «Seiner Heiligkeit», dem spirituellen Führer der Tibeter? Mich, die Protestantin aus der Schweiz? Der Dalai Lama ist ein extrem präsenter Mensch, er lebt den Moment, er ist regelrecht im Moment. Diese Fähigkeit, sich auf eine Sache, sich auf den Moment zu konzentrieren, ihn ganz auszukosten, zu leben, haben viele Menschen heute verloren.
Der Dalai Lama repräsentiert unsere Sehnsucht, vor allem im Westen, nach einem anderen, erfüllteren Leben, nach dem Sinn des Lebens. Eigentlich würden unsere offiziellen Kirchen genau diese Sinnsuche auch anbieten, aber sehr viele Menschen, bereits ein Drittel, haben sich davon abgewendet. Doch die Sehnsucht nach einem besseren Leben bleibt in uns, sie macht unsere Menschlichkeit geradezu aus.
«Der Dalai Lama verkörpert, wonach wir uns sehnen.»
Der Dalai Lama verkörpert, wonach wir uns sehnen. Wir alle leben auf die äussere Wirkung und auf unseren Erfolg bedacht. Sind atemlos, ruhelos, hyperaktiv. Wir sammeln immer mehr Güter und werden dabei immer einsamer. Der Dalai Lama lebt vor, dass es noch einen anderen Weg geben könnte. Den Weg des Mitgefühls, des Humors, der menschlichen Wärme, der Nähe und der Bescheidenheit.
Vielleicht ist es das, was viele Menschen im Westen so am Dalai Lama und an der tibetischen Kultur fasziniert. Wir leben für das Haben, der Dalai Lama für das Sein. Das mag jetzt pathetisch tönen, aber nach einer Begegnung mit dem Dalai Lama bin nicht nur ich, sondern sind viele wie von einer seltenen Leichtigkeit erfüllt.
Das soziale Wesen
Nach dem Treffen mit den verschiedenen Parlamentariern kamen Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen auf mich zu und schilderten ihre eindrückliche Begegnung und eben jene Leichtigkeit und das stille Lächeln des Glücks, das ein Treffen mit «Seiner Heiligkeit» hinterlässt und das uns im Alltag so häufig fehlt.
Bei einer Begegnung mit dem Dalai Lama wird einem wieder bewusst, welch soziale Wesen wir Menschen im Grunde unseres Herzens sind. Er ist ja ein grosser «Berührer», nimmt einen an der Hand, berührt die Schulter, den Rücken. Bei anderen Menschen wäre das vielleicht etwas seltsam, wenn man Hand in Hand die Treppe unter den drei Eidgenossen hinaufsteigt, aber beim Dalai Lama stimmt es.
Wir begannen den Besuch im Bundesratszimmer, wo wir quasi unter vier Augen (plus Dolmetscher) ein kurzes Gespräch hatten, bei dem wir die an solchen Anlässen üblichen Formeln austauschten. Ich dankte ihm für seinen Besuch und überbrachte ihm die guten Wünsche des Parlaments und der Schweizer Bevölkerung – sowie die Versicherung, dass die Schweiz dem tibetischen Volk immer freundschaftlich verbunden ist und sich um dessen Wohl sorgt.
«Er ist ein grosser Berührer, nimmt einen an der Hand, berührt die Schulter, den Rücken»
Er bedankte sich offiziell bei der Schweizer Bevölkerung für die jahrzehntelange Hilfe und Solidarität und freute sich aufrichtig darüber, zum ersten Mal das Parlament von innen zu sehen. Der Dalai Lama ist sehr an der Demokratie und ihren Institutionen interessiert. Ende der 1990er-Jahre begann er in Dharamsala damit, das Exilparlament und die Exilregierung aufzubauen und Wahlen in der gesamten Diaspora durchzuführen.
Vor zwei Jahren gab er als erster Dalai Lama seit vielen Jahrhunderten die politische Führung Tibets ab und kümmert sich seither nur noch um spirituelle Aspekte. Das war ein grosser Schritt für die sehr hierarchisch geprägte Gesellschaft Tibets.
Wohl auch darum war seine Freude gross, als wir ihn nach der offiziellen Begrüssung durch die Wandelhalle und den Nationalratssaal führten. Auf dem Weg durch die Wandelhalle war er sehr interessiert, verwickelte alle Anwesenden in Gespräche. «What are you doing?», wollte er etwa von der Telefonistin vor der Wandelhalle wissen.
Im Nationalratssaal erklärten wir ihm die Sitzordnung, und er antwortete mit hundert Fragen. Wie das genau ablaufe, welche Sprachen gesprochen würden, wer ganz hinten und wer ganz vorne sitze. Im Saal waren noch einige Parlamentarierinnen und Parlamentarier bei der Arbeit anwesend, und die konnten dem Dalai Lama alle Fragen beantworten.
Ignazio Cassis, FDP-Nationalrat aus dem Tessin, sprach mit dem Dalai Lama freudig erregt über die Sprachminderheiten in der Schweiz – das ist ja ein grosses Thema meines Kollegen. Da er zufällig in der linken Ratshälfte unterwegs war und erst noch eine rote Krawatte trug, hielt ihn der Dalai Lama für einen Sozialdemokraten und begann nach der Erörterung des Sprachenproblems über die Vorzüge des Marxismus zu reden – der Dalai Lama bezeichnet sich ja als «marxistischen Mönch». Was einen amüsanten Dialog ergab und zeigt, dass dem Dalai Lama der spontane Austausch wichtig ist.
Eine feine Leichtigkeit
Keinen Dialog gab es leider an diesem Tag mit dem Bundesrat. Es war schon sehr bald klar, dass der Dalai Lama nicht von der Regierung empfangen würde. Aber diese Rollenverteilung zwischen Regierung und Parlament ist für eine Demokratie auch wichtig: Wir sind als Parlament eine unabhängige, demokratische Institution, die nicht am Gängelband der Regierung hängt.
Das muss man auch so gegenüber der chinesischen Botschaft vertreten, die im Rahmen der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und China keine Freude über den Besuch des Dalai Lama hatte. Bei der späteren Fragestunde von Aussenpolitikern und Mitgliedern der parlamentarischen Gruppe Schweiz–Tibet wurde auch der Dalai Lama nach dem Freihandelsabkommen gefragt. Er meinte, die Schweiz solle das Abkommen ruhig abschliessen und sich China zum Freund machen. Als Freund könne man dann auf die schwierige Menschenrechtssituation hinweisen – besser, als wenn man China zum Feind habe.
Ich war selber nicht mehr bei der Fragerunde dabei. Ich verabschiedete mich von ihm und war danach von eben jener ganz feinen Leichtigkeit erfüllt, die einem ein solches Treffen im besten Fall beschert.
Es war eine eindrückliche, eine berührende Begegnung und hoffentlich nicht die letzte. Von Herzen hoffe ich aber, dass dieser symbolische Besuch im Schweizer Parlament dazu beiträgt, dass die Werte einer friedlichen, solidarischen Welt, die der Dalai Lama so glaubwürdig vertritt, in unserer Gesellschaft weiterleben.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 19.04.13