Erst die Massenproteste vom vergangenen Sommer, dann die Korruptionsvorwürfe, jetzt die Internetzensur: Die türkischen Kommunalwahlen am Sonntag werden zu einem wichtigen Stimmungstest für Premierminister Recep Tayyip Erdogan.
Wenn die Türken am Sonntag zu den Wahlurnen gehen, entscheiden sie eigentlich über die Vergabe der fast 3000 Bürgermeisterposten sowie die Zusammensetzung der Stadträte und Provinzversammlungen. Aber in Wirklichkeit geht es um viel mehr.
Erst die Massenproteste vom vergangenen Sommer, dann die Korruptionsvorwürfe gegen die konservativ-islamische Regierung, jetzt die Kontroversen um die Internet-Zensur: Vor diesem Hintergrund werden die Kommunalwahlen zu einem wichtigen Test für Premierminister Recep Tayyip Erdogan und seine Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP).
Geduld der EU ist erschöpft
Mit dem am Donnerstag verfügten Verbot der Videoplattform YouTube hat Erdogan sich und sein Land weiter die Isolation geführt. Das US-State Department forderte die Türkei auf, die Sperren von Twitter und YouTube unverzüglich aufzuheben.
Auch in der EU scheint die Geduld mit Ankara allmählich erschöpft zu sein: «Erst Twitter, dann YouTube: wo soll das enden, Türkei?», twitterte Erweiterungskommissar Stefan Füle. Digitalkommissarin Neelie Kroes sieht in dem Verbot einen «weiteren verzweifelten und deprimierenden Schritt». Und Jean-Claude Juncker, der konservative Spitzenkandidat für die Europawahl, kritisierte auf Twitter, mit der Sperre entferne sich Ankara «noch weiter von den europäischen Werten».
Doch die Kritik kümmert Erdogan nicht.
Der Premier will es wissen
Es sei ihm «völlig egal, was die internationale Gemeinschaft sagt», hatte er schon vor dem vergangene Woche verhängten Twitter-Verbot erklärt. Erdogan geht es um den Erhalt der Macht. Dazu soll auch der Bann gegen YouTube dienen, denn über das Videoportal wurden seit Wochen kompromittierende Telefonmitschnitte verbreitet, die Erdogans persönliche Verstrickung in die Korruptionsaffären zu belegen scheinen.
Nun will der Premier es wissen. Er werde sich aus der Politik zurückziehen, wenn die AKP nicht stärkste Partei bleibe, kündigte er an. Dass die AKP ihre Führungsrolle verliert, ist zwar nicht zu erwarten. Aber interessant wird sein, ob sie gegenüber der Kommunalwahl von 2009 Stimmen einbüsst. Damals kam die AKP bei der Wahl der Provinzversammlungen auf knapp 39 und bei den Bürgermeisterwahlen auf 42 Prozent.
Erdogan weiss, dass auch wenn er bei dieser Wahl nicht selbst kandidiert, geht es am Sonntag um seine politische Zukunft. Seit Wochen tourt der Premier deshalb durch Anatolien, absolviert fast jeden Tag drei Wahlkampfkundgebungen und mehr.
Krächzender Regierungschef
Der strapaziöse Dauereinsatz fordert seinen Tribut: Erdogan hat inzwischen seine Stimmbänder ruiniert, er kann nur noch krächzen. «Ich entschuldige mich für meine Stimme“, fistelte Erdogan am Donnerstag im osttürkischen Van, „aber ich konnte diese Kundgebung einfach nicht absagen.» Das kommt an bei seinen jubelnden Fans.
Wenn seine Partei ihren Stimmenanteil halten kann oder nicht nennenswert verliert, hofft Erdogan die Korruptionsvorwürfe vom Tisch zu fegen. Die Chancen, dass die Wähler Erdogan mehrheitlich Absolution erteilen, stehen tatsächlich nicht schlecht. Für die Anhänger des Premiers haben die Bestechungsenthüllungen wenig Gewicht. Schliesslich geht es bei den angeblichen Schmiergeld-Millionen nicht um ihr Geld.
«Vater» des türkischen Wirtschaftswunders
Sie verehren Erdogan als Vater des türkischen Wirtschaftswunders. In seinen elf Regierungsjahren hat sich die Kaufkraft der Durchschnittsfamilie verdoppelt. Und Erdogans Kernwählerschaft, die fromme, konservative Landbevölkerung in Anatolien, kommt auch ohne Twitter und YouTube aus.
So werden die Kommunalwahlen zu einer wichtigen Weichenstellung. Gehen sie nach Erdogans Wünschen aus, stehe der Türkei «eine noch schlimmere Hexenjagd bevor», kommentierte jetzt der Kolumnist Semih Idiz in der Zeitung «Hürriyet». Dann werde der Premier, der bereits tausende Polizisten und Justizbeamte ablösen liess, um die Korruptionsermittlungen abzuwürgen, «der Wut auf seine Gegner freien Lauf lassen».
Kann sich die AKP am Sonntag behaupten, wird damit auch der Weg frei für den Aufstieg des Premiers an die Staatsspitze bei den Präsidentenwahlen am 10. August. Das wäre Erdogans ultimativer Triumph über seine Feinde.