Ankara streitet vor den Parlamentswahlen im Juni über die Kurdenpolitik des Landes. Präsident Recep Tayyip Erdogan stellt sich quer im Friedensprozess – und muss dabei erstmals offene Kritik der Regierung einstecken.
Es war sein Thema. Kein Politiker in der jüngeren Geschichte der Türkei hat so beharrlich auf eine Lösung des Kurdenkonflikts hingearbeitet wie Recep Tayyip Erdogan. Doch jetzt betätigt sich ausgerechnet jener Mann, der noch kürzlich den Friedensprozess mit den Kurden als «grösstes gesellschaftspolitisches Projekt» des Landes bezeichnete, als Bremser: Es gebe überhaupt kein Kurdenproblem, erklärt Erdogan nun – und provoziert Streit mit der eigenen Regierung.
Mit dem Appell des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan, der seine Organisation am vergangenen Samstag aufrief, den bewaffneten Kampf für immer aufzugeben, schien der festgefahrene Friedensprozess wieder in Gang zu kommen.
Aber Erdogan schiesst quer. Die von der Regierung angekündigte Einsetzung einer unabhängigen Beobachterkommission, die den Verhandlungsprozess begleiten soll, findet der Präsident «nutzlos». Kritik übt Erdogan auch daran, dass Minister der Regierung und Politiker der pro-kurdischen Partei HDP Ende Februar in Istanbul gemeinsam vor die Presse traten und einen Friedensappell Öcalans präsentierten. Das sei «unpassend», rügte Erdogan.
Klare Worte von der Regierung
Die Reaktion der Regierung liess nicht auf sich warten – und fiel unerwartet deutlich aus: «Wir lieben unseren Präsidenten und wir sind uns der Dienste bewusst, die er leistet», erklärte Vizepremier Bülent Arinc, «aber bitte vergessen Sie nicht, dass es in diesem Land eine Regierung gibt.» Erdogans Kritik tat Arinc als «persönliche Ansichten» ab. So klar hat bisher kein Regierungspolitiker dem Präsidenten Paroli geboten.
Erdogan war es, der 2005 in einer Rede in der Kurdenhochburg Diyarbakir als erster türkischer Regierungschef die Existenz eines Kurdenproblems einräumte – jetzt spricht er davon, es gebe gar keine Kurdenfrage. 2012 knüpfte Erdogan über den Geheimdienst Kontakte zu dem inhaftierten Öcalan und nutzte die HDP als Mittler zur PKK – jetzt missbilligt er, dass sich Regierungsmitglieder gemeinsam mit Kurdenpolitikern fotografieren lassen.
Vorbehalte gegen Erdogans Machtfülle
Warum der Sinneswandel? Die Antwort könnte lauten: Wegen der Parlamentswahlen in der Türkei am 7. Juni. Ihr Ergebnis wird darüber entscheiden, ob Erdogan im nächsten Parlament eine Mehrheit für seine Verfassungsreform findet, mit der er sich eine noch grössere Machtfülle verschaffen will.
Erdogans Kalkül, kurdische Stimmen für die islamische Regierungspartei AKP zu mobilisieren, scheint nicht aufzugehen. Viele Kurden werfen der Regierung vor, sie habe der Belagerung der Kurdenstadt Kobane durch die IS-Terrormiliz untätig zugesehen und die Dschihadisten sogar unterstützt. Mit seiner neuen Linie in der Kurdenpolitik könnte Erdogan nun versuchen, Stimmen aus dem nationalistischen Lager zu gewinnen.
Es geht bei dem Streit also um mehr als die Kurdenpolitik. Nicht nur bei der Opposition, auch in der Regierungspartei wachsen die Vorbehalte gegenüber Erdogans Verfassungsreform-Plänen. Vielen ist der Präsident schon jetzt zu mächtig.