Erdogan verpasst Medien einen Maulkorb

Der jüngste Polizeieinsatz gegen einen Medienkonzern zeigt: Türkische Reporter leben gefährlich. Wer zu regierungskritisch schreibt, kann seinen Job verlieren oder sogar im Gefängnis landen. Beobachter sehen die Pressefreiheit im Land extrem gefährdet.

Police officers confront a reporter to stop a live broadcast during a police raid as they enter the headquarters of a media company allegedly linked to a government critic, enforcing a court order to seize the business, in Istanbul, Wednesday Oct. 28, 2015. A prosecutor has ordered Koza-Ipek Holding media company to be placed under the management of a trustee while its ties to the movement led by Fethullah Gulen, a U.S.-based moderate Islamic cleric, are investigated. The government accuses the movement led by Fethullah Gulen of trying to destabilize the state and prosecutors have labeled it a terrorist organization.( Burak Can / Cihan News Agency via AP) TURKEY OUT

(Bild: BURAK CAN)

Der jüngste Polizeieinsatz gegen einen Medienkonzern zeigt: Türkische Reporter leben gefährlich. Wer zu regierungskritisch schreibt, kann seinen Job verlieren oder sogar im Gefängnis landen. Beobachter sehen die Pressefreiheit im Land extrem gefährdet.

Istanbul. Mit einer Auflage von rund 56’000 Exemplaren liegt die «Cumhuriyet» (Republik) unter den türkischen Tageszeitungen zwar nur an 14. Stelle, aber das am 7. Mai 1924 zum ersten Mal erschienene Traditionsblatt ist die älteste Zeitung der modernen Türkei. Die einst staatstragende «Gründerzeitung» der Republik, das Sprachrohr des Kemalismus, ist seit über 40 Jahren ein Oppositionsblatt. «In den bürgerkriegsähnlichen späten 1970er-Jahren war es lebensgefährlich, die ‹Cumhuriyet› zu kaufen und öffentlich zu lesen», erinnert sich Aydin Engin, ein früherer Chefredakteur, der heute als Kolumnist für die Zeitung schreibt.

Engin hat seit 2007 einen staatlichen Leibwächter. Eine Erinnerung daran, dass türkische Journalisten gefährlich leben. Seit 1979 wurden sieben «Cumhuriyet»-Autoren ermordet. «Ich wollte den Bodyguard eigentlich nicht», sagt der 75-jährige Engin. «Sie glauben gar nicht, wie unangenehm das ist, wenn man zum Abendessen eingeladen ist und einen Polizisten mitbringt. Aber die Polizei besteht darauf, mich zu schützen.»

Zwei Mal lebenslänglich

Im Flur des Redaktionsgebäudes im Istanbuler Stadtteil Sisli hängt eine Messingtafel mit einem Spruch von Mustafa Kemal Atatürk: «Journalisten sollen schreiben, was sie sehen und was sie denken.» Nie war das aktueller als heute, 77 Jahre nach dem Tod des Staatsgründers. In Erdogans Türkei wird für Journalisten die Ausübung ihres Berufs immer schwieriger – und gefährlicher. Regierungsanhänger belagerten kürzlich das Redaktionsgebäude der Zeitung «Hürriyet», schlugen Türen und Fenster ein. Dann prügelten vier Angreifer den «Hürriyet»-Journalisten Ahmet Hakan krankenhausreif. Hakan hatte zuvor um Polizeischutz gebeten – vergeblich.

Dutzende regierungskritische Journalisten und Kolumnisten wurden bereits auf Druck der Regierung entlassen, andere üben inzwischen Selbstzensur. «Die meisten türkischen Medienbarone sind zugleich Baulöwen, Finanzhaie oder Energiemagnaten, die staatliche Aufträge wollen», erklärt Engin. Entsprechend abhängig sind die grossen Medienkonzerne von der Regierung. Was passieren kann, wenn man sich den Zorn Erdogans zuzieht, erfuhr Aydin Dogan, Chef der früher grössten Medienholding des Landes, zu der auch die regierungskritische «Hürriyet» gehört: Der Fiskus brummte dem Konzern eine Steuerstrafe von umgerechnet 2,5 Milliarden Dollar auf.

Auch «Cumhuriyet» bekommt den Druck zu spüren. Als die Zeitung im Juni über angebliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an die IS-Terrormiliz berichtete, drohte Präsident Erdogan dem Chefredakteur Can Dündar: «Dafür wird er büssen, der kommt mir nicht davon!» Erdogan höchstpersönlich stellte Strafantrag. Jetzt fordert der Staatsanwalt für Dündar zwei Mal «lebenslänglich» und zusätzlich 42 Jahre Haft.

Türkei auf Platz 149

Kurz vor der Wahl verstärken die Behörden den Druck noch einmal. Anfang Oktober wies die Staatsanwaltschaft den grössten Bezahl-TV-Anbieter des Landes an, mehrere regierungskritische Kanäle aus dem Angebot zu nehmen. Gegen die Sender, die dem Erdogan-Erzfeind Fetullah Gülen nahe stehen sollen, wird wegen «Unterstützung einer Terrororganisation» ermittelt. Am 10. Oktober erliess ein Istanbuler Gericht Haftbefehl gegen den Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung «Zaman», weil er in einem Beitrag auf Twitter angeblich Präsident Erdogan beleidigt hatte.

Anfangs Woche wurde der Konzern Koza-Ipek Holding, der unter anderem die regierungskritische Zeitung «Bugün» herausgibt, unter staatliche Aufsicht gestellt. Er soll Verbindungen zu dem Erdogan-Erzfeind Fetullah Gülen haben, einem im Exil in den USA lebenden Prediger. Am Mittwoch stürmte die Polizei vor laufenden Kameras dann die Zentrale des Medienkonzerns in Istanbul, wonach ein Zwangsverwalter die Kontrolle über die zwei Fernsehsender «Kanaltürk» und «Bugün» übernahm.

In der jüngsten weltweiten Rangliste der Pressefreiheit der Organisation «Reporter ohne Grenzen» liegt die Türkei unter 180 Ländern auf Platz 149. Erdogan sieht das anders. «Nirgendwo ist die Presse freier als in der Türkei», sagte er kürzlich.

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