Der allmächtige türkische Staatspräsident Erdogan hat einen gefährlichen, unsichtbaren Gegner: Ein mysteriöser Informant, der sich Fuat Avni nennt, twittert brisante Informationen. So wusste die Öffentlichkeit im Voraus von den Verhaftungen einiger Journalisten. Doch wer ist dieser Fuat Avni?
Als die Polizei am vergangenen Sonntag in die Redaktionsräume der Zeitung «Zaman» kam, war Ekrem Dumanli nicht überrascht. Der Chefredakteur der auflagenstärksten türkischen Zeitung war extra früh aufgestanden und in die Redaktion gefahren – um seine eigene Festnahme nicht zu verpassen. Auch Fernsehteams, Journalisten anderer türkischer Medien und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen waren in die «Zaman»-Redaktion in der Nähe des Istanbuler Atatürk-Flughafens gekommen, um die Polizeiaktion zu verfolgen.
Denn die Festnahmen des «Zaman»-Chefredakteurs und weiterer 24 regierungskritischer Journalisten kamen nicht unerwartet. Nutzer des Netzwerks Twitter wussten davon. Drei Tage zuvor hatte dort ein Unbekannter, der den Namen Fuat Avni verwendet, landesweite Razzien und bevorstehende Festnahmen von Regierungskritikern angekündigt. Namentlich nannte Fuat Avni auch den Chefredakteur von «Zaman».
Der geheimnisvolle Fuat Avni
Damit traf Fuat Avni nicht zum ersten Mal ins Schwarze. Bereits vor vier Monaten sagte er eine Verhaftungsaktion gegen missliebige Polizeibeamte in Istanbul voraus – tatsächlich wurden anderntags 33 Beamte wegen «Spionage» in Gewahrsam genommen.
Wer ist dieser geheimnisvolle Fuat Avni, der seit Monaten über Twitter brisante Informationen aus Regierungskreisen, dem Polizeiapparat und dem engsten Kreis um Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan verbreitet? Ein Hellseher? Wohl kaum. Dazu sind seine Prognosen zu präzise. Fuat Avni selbst sagt von sich, er gehöre zum «innersten Zirkel» um Erdogan und sehe ihm bisweilen «in die Augen».
Viele Beobachtern vermuten hinter Fuat Avni eine Gruppe, die zu den Gefolgsleuten des islamischen Reformpredigers Fetullah Gülen gehört.
Der Informant verbreitet tatsächlich Details, die kein Aussenstehender kennen kann – etwa über Erdogans Schlafgewohnheiten. Oder er teilt am Vorabend mit, was «der Tyrann», wie er Erdogan nennt, am nächsten Tag tragen wird. Manche spekulieren bereits, Fuat Avni sei eine Frau: Erdogans Gattin Emine. Aber das ist wohl auszuschliessen. Die First Lady würde sich niemals gegen ihren Gatten stellen, der die sozialen Netzwerke schon während der Massenproteste vom Sommer 2013 als «grösste Bedrohung der Gesellschaft» bezeichnete und Twitter verbieten liess – bis das Verfassungsgericht die Sperre wieder aufhob.
Viele Beobachter vermuten, dass es sich bei Fuat Avni um eine Person oder eine Gruppe handelt, die zwar zum engsten Kreis um Erdogan gehört oder an zentraler Stelle im türkischen Geheimdienst angesiedelt ist, aber zu den Gefolgsleuten des islamischen Reformpredigers Fetullah Gülen gehört. Gülen, der seit 1999 im Exil in den USA lebt und von dort ein weltumspannendes Netzwerk gemässigt islamischer Bildungseinrichtungen sowie Medien steuert, war früher der engste Verbündete Erdogans im Kampf gegen die Kemalisten und das allmächtige Militär. Inzwischen hat sich Erdogan aber mit seinem einstigen Mitstreiter überworfen. Er wirft Gülen vor, seine Gefolgsleute in Schlüsselstellungen der Justiz, der Polizei und der Verwaltung zu platzieren, um einen «Parallelstaat» aufzubauen.
EU verurteilt Festnahmen
Der frühere Bundesgenosse Gülen ist nun Staatsfeind Nummer eins. Er werde Gülens Anhänger «in ihren Höhlen aufspüren und vernichten», verspricht Erdogan. Dazu gehören auch die Razzien bei «Zaman» sowie anderen Medienunternehmen, die der Gülen-Bewegung zugerechnet werden. Den Redakteuren wird «Terrorismus» vorgeworfen. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu sieht in den Razzien und Verhaftungen einen «Staatsstreich».
Mit der landesweiten Verhaftungswelle entfernt sich die Türkei, die mit der EU über einen Beitritt verhandelt, einen weiteren Schritt von den Werten Europas und marschiert in Richtung Polizeistaat. Die EU warnte, wenn rechtsstaatliche Prinzipien und Grundrechte nicht respektiert würden, könne es keinen Fortschritt bei den EU-Beitrittsverhandlungen geben. Auf Erdogan macht das keinen grossen Eindruck. Die EU solle «ihre Ratschläge für sich behalten», sagt der türkische Präsident: «Uns ist es egal, ob die EU uns aufnimmt oder nicht.»
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