Es begann mit friedlichen Bürgerprotesten gegen das Fällen einiger Bäume. Inzwischen fordern die Demonstranten den Rücktritt der Regierung. Istanbul ist nicht Kairo, Erdogan kein Mubarak. Aber sein selbstherrlicher Führungsstil irritiert. Damit treibt der Premier die Eskalation weiter voran, er spielt mit dem Feuer.
Wirtschaftlich war die Zeit seit dem Amtsantritt des islamisch-konservativen Premierministers Tayyip Erdogan für die Türkei ein goldenes Jahrzehnt. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich verdreifacht, das Land stieg unter die 20 grössten Wirtschaftsnationen der Erde auf. Auch politisch ist die Ära Erdogan von einer Stabilität gekennzeichnet, wie sie die chronisch krisengeplagte Türkei seit Jahrzehnten nicht mehr kannte.
Der Social-Media-Editor von Reuters, Anthony de Rosa, hat eine Liste mit Journalisten in der Türkei zusammengestellt, die über die aktuellen Ereignisse twittern: zur Twitter-Liste.
Doch wie trügerisch diese Stabilität ist, zeigen die Unruhen, die sich, ausgehend vom Istanbuler Taksim-Platz, am Wochenende wie ein Flächenbrand über das ganze Land ausbreiteten. Was als Protest gegen die Zerstörung des Gezi-Parks begann, einer der letzten grünen Oasen in der Istanbuler Betonwüste, wird zu einem Aufbegehren gegen den zunehmend autoritären Führungsstil Erdogans und die ideologische Dominanz seiner islamischen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei, der AKP.
Nur eines von vielen kontroversen Grossprojekten
Es ist kein Zufall, dass die Proteste am Taksim-Platz begannen, wo ein beliebter Park der Rekonstruktion einer Kaserne aus der ottomanischen Ära weichen soll. Die Mehrheit der Anwohner will die Grünflächen erhalten. Das Bauvorhaben am Taksim-Platz ist nur eines von mehreren kontroversen Grossprojekten, wie der dritten Bosporusbrücke, dem geplanten Kanal vom Schwarzen Meer zum Marmarameer oder dem künftigen Grossflughafen, von dem ein früherer Chef der Fluggesellschaft Turkish Airlines jetzt rundheraus erklärte, er sei überflüssig, weil man die beiden bestehenden Istanbuler Airports erweitern könne.
Erdogans Grossvorhaben haben einen gemeinsamen Nenner: Es fehlt der gesellschaftliche und politische Konsens.
Doch es geht nicht um Bedarf und Nutzen. Erdogan will mit diesen Bauvorhaben, zu denen auch eine Riesen-Moschee auf dem Camlica-Hügel über dem Bosporus gehört, der Stadt seinen Stempel aufdrücken, will sich verewigen wie es einst Sultan Mehmet II. mit dem Topkapi-Palast oder Sultan Ahmed mit der Blauen Moschee taten. Erdogans Grossvorhaben haben einen gemeinsamen Nenner: Es fehlt der gesellschaftliche und politische Konsens.
Der Zorn auf die Arroganz der Macht
Die Bürger fühlen sich übergangen. Jetzt entlädt sich der aufgestaute Zorn der Menschen auf die Arroganz der Macht, ihre Wut auf die islamisch-konservative Regierung, die der Gesellschaft ihre religiösen Wertvorstellungen aufzuzwingen versucht – zum Beispiel mit den Alkohol-Verboten, die Erdogan jetzt in einer Nachtsitzung im Eilverfahren durchs Parlament peitschte.
Video von RussiaToday vom Taksim-Platz:
Istanbul ist nicht Kairo, Erdogan kein Mubarak. Aber sein selbstherrlicher Führungsstil irritiert. Früh hat sich der türkische Premier im arabischen Frühling auf die Seite derer geschlagen, die gegen diktatorische Regime aufbegehrten, ob in Libyen, Ägypten oder Syrien. Aber gelernt hat er aus diesen Bewegungen offenbar nichts. Während sich die unterdrückten Völker im Nahen Osten und Nordafrika nach mehr Demokratie sehnen, ist Erdogan dabei, seinem Land eine Präsidialverfassung zu verpassen, die dem künftigen Staatsoberhaupt eine ungewöhnliche Machtfülle geben soll. Es ist kein Geheimnis, dass Erdogan selbst im kommenden Jahr ins höchste Staatsamt aufsteigen will. Eine Aussicht, die vielen Türken Unbehagen bereitet. Braucht die Türkei einen «starken Mann»?
Istanbul ist nicht Kairo, Erdogan kein Mubarak. Aber sein selbstherrlicher Führungsstil irritiert.
Jahr für Jahr listen die EU-Kommission und Menschenrechtsorganisationen die türkischen Demokratie-Defizite auf. Sie reichen von Repressionen gegen religiöse und ethnische Minderheiten über Einschränkungen bei der Meinungs- und Pressefreiheit bis hin zur Polizei-Willkür, wie sie bei den brutalen Einsätzen gegen die Demonstranten einmal mehr zu beobachten ist.
Ein weiteres Video mit Aufnahmen vom Taksim-Platz, am Freitag – 31. Mai:
Es begann mit friedlichen Bürgerprotesten gegen das Fällen einiger Bäume. Inzwischen fordern die Demonstranten den Rücktritt der Regierung. Doch Erdogan hält unbeirrt an seinen Plänen fest, will das Bauvorhaben sogar trotz eines inzwischen erlassenen gerichtlichen Baustopps fortsetzen. Die mittlerweile Hunderttausende Demonstranten sind für ihn «Extremisten». Damit treibt der Premier die Eskalation weiter voran, er spielt mit dem Feuer. Der Taksim ist nicht der Tahrir-Platz. Aber die Bilder beginnen sich beunruhigend zu ähneln.
Zum aktuellen Artikel aus Istanbul: Demonstranten auf dem Taksim-Platz verstärken Barrikaden
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