Monat für Monat fliehen Tausende aus Eritrea. Ein Ende des Exodus ist nicht absehbar. Das autoritäre Regime beutet Männer im Militärdienst aus und macht Kritiker mundtot. Experten erklären, warum Eritreer in der Schweiz zu Recht Aufnahme finden.
Viermal die Landesfläche der Schweiz, verschiedene Klimazonen von Meeresküste über Wüste bis zu tropischen Tälern, eine Vielzahl von Ethnien: Eritrea wurde in besseren Zeiten als «Schweiz Ostafrikas» betitelt. Heute ist das Land vor allem als Heimat jener Frauen und Männer im öffentlichen Bewusstsein, welche die Rangliste der Asylbewerber anführen: 7000 Eritreerinnen und Eritreer stellten 2014 hierzulande ein Gesuch, Ende Jahr lebten 24’000 von ihnen in der Schweiz. Ihre Chance, eine Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung zu erhalten oder zumindest vorläufige Aufnahme zu finden, ist gut: Wer seine Herkunft glaubhaft machen kann, hat den Flüchtlingsstatus praktisch auf sicher.
Der Militärdienst im Kleinstaat am Horn von Afrika ist hart und oft endlos: Ab 18 sind Frauen bis zum Alter von 25, Männer zum Teil jahrzehntelang Armeeangehörige. Dort lernen sie nicht nur kämpfen, sondern werden als Zwangsarbeiter in Steinbrüchen, auf Baustellen und in der Landwirtschaft missbraucht. Desertion ist deshalb an der Tagesordnung.
Desertion und Wehrdienstverweigerung per se sind keine Gründe für Asyl. Doch weil Deserteure dem Regime in Asmara als Staatsfeinde gelten, drohen ihnen bei einer Rückschaffung Verfolgung und Folter. Darum erhalten die meisten ein Bleiberecht in der Schweiz.
Ein Leben unter den Augen der Spitzel
Warum fliehen so viele, während sich kaum jemand gegen das Zwangssystem Armee auflehnt? Magnus Treiber erklärt es so: «Wer heute wehrpflichtig wird, hat sein Leben lang nur das Spitzelsystem von Regierung, Militär und Geheimdienst kennengelernt und traut niemandem.» Treiber ist Ethnologe und intimer Kenner der Verhältnisse in Eritrea. Vor kurzem referierte er auf Einladung der GGG-Ausländerberatung Basel zum Thema.
Im Lauf seiner Forschungen und während seines Aufenthalts in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, wo Treiber an der Fakultät für Sozialanthropologie unterrichtet, hat er zahlreiche Flüchtlinge aus Eritrea kennengelernt, ihre Schicksale aufgeschrieben und ausgewertet.
Alle drei Monate werden die Häftlinge verlegt – eine Logik dahinter gibt es nicht.
Die Erkenntnis: Einen objektiven Grund, verhaftet zu werden, braucht es nicht. Folterungen sind in der Gefangenschaft an der Tagesordnung, meist gibt es buchstäblich nur Wasser und Brot in knappen Rationen – ausser die Verwandten werden über den Aufenthaltsort ihrer Angehörigen orientiert und bringen ihnen Nahrung, Wasser und Decken.
Alle drei Monate werden die Häftlinge verlegt – eine Logik dahinter gibt es nicht, ebenso wenig wie Informationen über das angebliche Delikt oder die Zuweisung eines Verteidigers. Kommt es nach Monaten zu einer Verurteilung, drohen Arbeitslager oder eine weitere qualvolle Zeit im nächsten Gefängnis, wo nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche verwahrt werden.
Wer Geld organisieren kann, schmiert die Aufseher, bekommt Hafterleichterung oder wird vorzeitig freigelassen. «Die Korruption ist allgegenwärtig», sagt Treiber. So würden Häftlinge an Banditen weiterverkauft, die dann Geld von den Verwandten erpressten. Und wer es schafft, einen Schlepper zu organisieren, ist nie sicher, ob dieser nicht mit der Polizei paktiert und so doppelt abkassiert.
Isoliert aus eigenem Antrieb
Von 1890 bis 1941 war das Land eine italienische Kolonie, die Kapitale Samara verströmte weltstädtisches Flair. Heute ist Eritrea trotz Hochseehafen am Roten Meer fast komplett von der Aussenwelt isoliert – und zwar aus eigenem Antrieb.
Der Präsident, Isayas Afewerki, regiert, als ob man noch immer im Kampf gegen den Rest der Welt stünde. Im kollektiven Bewusstsein ist die Annexion durch den grossen Nachbarn Äthiopien präsent. Ein blutiger Krieg von 1961 bis 1991 führte schliesslich zur Autonomie. 1998 bis 2000 flammten dann Grenzstreitigkeiten mit Äthiopien auf, das kleine Eritrea ging gegen die Übermacht als Sieger vom Schlachtfeld.
Afewerki, seit 1993 Präsident, kann es sich leisten, öffentlich anzukündigen, in den nächsten zehn Jahren werde es keine Wahlen geben. Hilfswerke sind nicht gern gesehen: Man hat die Unabhängigkeit selbst erkämpft und will auch jetzt alle Einflüsse aus dem Ausland fernhalten.
Um Machtkonzentrationen zu verunmöglichen, löste Afewerki 2006 die Universität in der Hauptstadt Asmara auf. Seither existieren fünf Universitäten in der Peripherie, wohin die Studentinnen und Studenten geschickt werden – wobei eine Behörde das Studienfach zuteilt. Seit sich in der Armee Unmut regt, baut Afewerki eine Parallelarmee auf. Und in jeder Behörde gibt es Spitzel, die direkt dem Präsidenten rapportieren.
Jahrzehntelange Bevormundung, Bespitzelung und Unterdrückung haben verhindert, dass sich eine Kraft entwickeln konnte, welche die Politik demokratisieren könnte.
Immerhin, der Kreis der alten Männer um den 69-jährigen Afewerki wird löchrig, Junge werden ferngehalten, weil der Diktator fürchtet, sie könnten ihm gefährlich werden. Ein Hoffnungsschimmer? «Nicht unbedingt», sagt Treiber, «die Zustände nach Afewerki könnten noch schlimmer werden.» Absehbar ist, dass zwischen der offiziellen und der Privatarmee Afewerkis ein offener Kampf um Macht und Geldtöpfe ausbricht. Die jahrzehntelange Bevormundung, Bespitzelung und Unterdrückung haben verhindert, dass sich eine Kraft entwickeln konnte, welche die alte Garde ablösen und die Politik demokratisieren könnte. Zudem sind Zehntausende von Intellektuellen ausser Landes geflohen.
«Die Zustände nach Afewerki könnten noch schlimmer werden.» Eritrea-Experte Magnus Treiber glaubt nicht, dass ein Regimewechsel allein die Lage verbessern würde.
Die Furcht vor Verrat lebt in der Diaspora weiter. «Flüchtlinge aus Eritrea sind aussergewöhnlich argwöhnisch. Es ist ein langwieriger Prozess, mit ihnen eine Vertrauensbasis aufzubauen», berichtet Renata Gäumann, Asylkoordinatorin Basel-Stadt. Viele Neuankömmlinge sind minderjährig, psychisch blockiert, und anders als etwa bei den Tibetern gebe es in dieser Gruppe nur wenig Zusammenhalt.
Einfache Rezepte für den Umgang gebe es keine, sagt auch Magnus Treiber, umso mehr, als die Herkunft der Flüchtlinge sich verändere: «Am Anfang flohen vor allem Menschen aus Asmara, die gebildet und sozialisiert waren. Nun kommen immer mehr auch Jugendliche aus ländlichen Regionen.» Diese wurden nie richtig sozialisiert und warteten teilweise jahrelang in Flüchtlingslagern, bis sich endlich ein Schlepper für die Weiterreise nach Europa fand. «Da braucht es grosse Integrationsanstrengungen», sagt Treiber.
Was kann die Schweiz tun, um deren Leid zu lindern? Mussie Zerai ist katholischer Priester, seit 2011 betreut der 40-Jährige im Auftrag des Vatikans die eritreischen Katholiken in der Schweiz und koordiniert die Betreuung dieser Menschen in ganz Europa. Bekannt geworden ist er als «Handy-Retter», dessen Mobilnummer von eritreischen Flüchtlingen gewählt wird, wenn sie auf dem Mittelmeer in Seenot geraten. (Ein Porträt finden Sie hier.)
Hoffen auf die Diaspora
Zerai versucht, ihnen zu helfen, alarmiert die Küstenwache und verhandelt mit Behörden. «Die Schweiz muss bei den Eritreern besser unterscheiden zwischen echten Flüchtlingen und jenen, die das Regime in Asmara unterstützen.» Dazu gehören etwa jene über tausend, die Mitte Juni in Genf gegen den UNO-Bericht der Menschenrechtskommission protestierten, der das Regime in Asmara scharf kritisiert. «Die Polizei könnte diese Personen identifizieren und sie nicht länger als Flüchtlinge behandeln», fordert Zerai.
Die echten Asylsuchenden hingegen brauchten vor allem Bildung. Denn weil sie jahrelang im Militärdienst waren, fehlen ihnen neben Sprachkenntnissen auch Abschlüsse und Diplome, um in der Diaspora selbst für den Lebensunterhalt aufkommen zu können. Schliesslich sollen die Gemeinden Plattformen bereitstellen, wo sich Eritreer und Schweizer kennenlernen könnten.
Und was wird, wenn Isayas Afewerki und seine Clique einmal nicht mehr an den Hebeln der Macht sind? Kehrt dann die Freiheit zurück ans Horn von Afrika? Das Beispiel Libyen lässt daran zweifeln. Aber Mussie Zerai will die Hoffnung nicht aufgeben: «Im Land selbst sind solche Diskussionen nicht möglich. Aber in der Diaspora hat es viele junge Menschen, die über eine andere Zukunft diskutieren.»