Die Schweiz hat eine lange Tradition der Neutralität, die in der internationalen Diplomatie ein Wert an sich ist. Vorschnelle Sanktionen würden diese Vermittlerrolle gefährden.
Wladimir Putin spielt in der Ukraine-Krise seit Monaten ein Spiel, das man «Marionetten-Jo-Jo» nennen könnte. Die Figuren am Band des Kreml-Chefs sind die Separatisten in der Ostukraine und die eigenen Soldaten in der Region. Wenn es Putin ins Kalkül passt, lässt er Truppen und Söldner vorschnellen wie ein Jo-Jo. Trifft er auf Widerstand, lässt der Strippenzieher seine Puppen zurückzucken.
Zu beobachten war dieses Spiel kurz vor dem EU-Aussenministertreffen, bei dem es am vergangenen Dienstag um erweiterte Sanktionen gegen Russland ging. Wenige Stunden vor der Zusammenkunft lenkten die Separatisten am Absturzort von Flug MH17 plötzlich ein, gaben die Leichentransporte frei und händigten die Flugschreiber aus. Im UN-Sicherheitsrat stimmte Moskau einer Resolution zu, die eine unabhängige Untersuchung forderte. Niemand sollte in Brüssel sagen können, Russland mache seinen Einfluss auf die Aufständischen nicht geltend oder behindere die Aufklärung der Tragödie.
Es wird gedroht – aber nicht gehandelt
Es ist schwer zu beurteilen, ob sich die EU-Aussenminister davon beeindrucken liessen. Sicher ist, dass sie zwar erneut Drohungen an die Adresse Moskaus formulierten, aber einmal mehr davor zurückschreckten, klare Fakten zu schaffen. Um im Militärjargon zu bleiben: Sie schoben ein Torpedo ins Rohr, schossen aber nicht. Das entspricht den Spielregeln, nach denen die europäischen Staats- und Regierungschefs bei umfassenden Wirtschaftssanktionen das letzte Wort haben. Ein Armutszeugnis ist es dennoch. Schlimmer noch: Es ist unfassbar, dass Frankreich unter diesen Vorzeichen an einem grossen Rüstungsgeschäft mit Russland festhalten will.
Aber die Kritik kann sich nicht allein an Paris richten. Andere machen andere Geschäfte. Deutschland marschiert dabei vorweg, wenig dahinter die Schweiz. Bestes Beispiel ist die deutsch-russische Ostseepipeline, deren Betreiber Nordstream den Sitz in Zug hat. Der Moskauer Energieriese Gazprom macht beste Geschäfte in der Bundesrepublik. Viele Finanztransfers wiederum werden über Zürich abgewickelt.
Die Schweiz dagegen hat eine lange Tradition der Neutralität, die in der internationalen Diplomatie ein Wert an sich ist.
Dennoch ist die politische Lage der beiden Nachbarländer angesichts der Ukraine-Krise in keiner Weise vergleichbar. Deutschland ist der einflussreichste EU-Staat. Das Land ist komplett in die Strukturen des Brüsseler Bündnisses und der transatlantischen Allianz eingebunden. Die Schweiz dagegen hat eine lange Tradition der Neutralität, die in der internationalen Diplomatie ein Wert an sich ist. Es wäre geradezu fahrlässig, diesen Status durch vorschnelle Sanktionen gegen Russland zu gefährden. Das hat wenig mit einem unangebrachten Kuschelkurs zu tun, aber viel mit gesundem Menschenverstand.
Zu Recht fragen darf man nach der Rolle, die Bundespräsident Didier Burkhalter als Vorsitzender der OSZE spielt. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat in der Ukraine-Krise nicht immer eine glückliche Figur gemacht. Die diversen OSZE-Missionen wurden nie als ordnende Faktoren wahrgenommen – weder von den prorussischen Separatisten noch von der Regierung in Kiew. So kam es, dass wiederholt OSZE-Beobachter zwischen die Fronten oder gar in Geiselhaft gerieten. Auch nach der Tragödie von Flug MH17 gelang es der OSZE nicht, an der Absturzstelle für geordnete Verhältnisse zu sorgen – nicht zuletzt, weil ihr Ruf in der Region längst Schaden genommen hat.
Burkhalter verdient keine Kritik
Diese Kritik mit dem Namen des Vorsitzenden zu verbinden, ist allerdings wohlfeil. Natürlich hat Burkhalter eine Mitverantwortung. Entscheidend ist aber: Die OSZE, zu der die postsowjetischen Staaten gehören wie auch die USA und Kanada, ist eine derart disparate Organisation, dass von ihr wenig zu erwarten ist, solange die wichtigsten Mitgliedsstaaten in einem scharfen Konflikt zueinander stehen.
Die Schweiz tut gut daran, sich im Windschatten der EU zu halten. Das Land wird als Ausrichter gebraucht werden, wenn wieder Ukraine-Gespräche anstehen (Genf II). Deutschland dagegen könnte sich in Brüssel aber als Tempomacher anbieten. Am Mittwoch sandten das Bundeskanzleramt und das Aussenministerium in Berlin markige Worte an die Adresse Moskaus. «Es reicht», hiess es in der deutschen Hauptstadt. Wirtschaftssanktionen seien das Gebot der Stunde. Die Botschaft war zu vernehmen, allein es fehlt der Glaube.
Tatsächlich stellt sich die Frage: Wann, wenn nicht jetzt? Fast 300 Zivilisten sind tot, weil Söldner im Osten der Ukraine alles tun, um das Land, das nach Westen strebt, in Krieg und Chaos zu stürzen. Es mag noch nicht den letzten Beweis dafür geben, dass die prorussischen Separatisten für den Absturz des Fluges MH17 verantwortlich sind. Unstrittig ist aber, dass es die Katastrophe nicht gegeben hätte, wenn Putin nicht sein «Marionetten-Jo-Jo» spielen würde.