Es wird alles vertuscht

Im Jahr 2011 erschütterte ein Korruptionsskandal den türkischen Fussball. Obwohl das zivile Gericht Strafen aussprach, will der Verband keine Beweise finden. Noch lebt der Widerstand gegen die Vertuschung.

Ibrahim Ertürk. Trabzon Platform, Manipulationsskandal, Türkei, Fussball, Skandal, Fenerbahçe, Fenerbahce, Trabzonspor, Demonstration, Zürich, Fifa. (Bild: zVg)

Im Jahr 2011 erschütterte ein Korruptionsskandal den türkischen Fussball. Obwohl das zivile Gericht Strafen aussprach, will der Verband keine Beweise finden. Noch lebt der Widerstand gegen die Vertuschung.

Ibrahim Ertürk weilt am kommenden Wochenende in Trabzon, seiner Heimatstadt. Vor 30 Jahren zog der mittlerweile 52-Jährige von der Stadt am Schwarzen Meer nach Deutschland. Der Vater dreier erwachsener Kinder studierte in Mannheim Betriebswirtschaftslehre und lebt und arbeitet seit vielen Jahren als selbstständiger Lohn- und Finanzbuchhalter in Sinsheim.

Für Ertürk ist die dreitägige Reise übers Wochenende in die Heimat kein Familienausflug. Er fliegt nach Trabzon, weil dort der Engländer Declan Hill sprechen wird, ein Experte für Spielmanipulation. Eingeladen hat die «Trabzon Platform», ein Zusammenschluss von Aktivisten aus der Stadt, die sich nicht mit der Abwicklung des riesigen Manipula­tionsskandals im türkischen Fussball abfinden will, der 2011 ans Licht der Öffentlichkeit kam.

Es ist bereits die dritte Veranstaltung dieser Art, zu der die «Trabzon Platform» lädt. Ibrahim Ertürk war immer dabei. Er war in den letzten anderthalb Jahren auch in Berlin, Amsterdam, Wien, Zürich, in Nyon vor der Zentrale der Europäischen Fussball- Union Uefa, in Frankfurt vor dem Sitz des Deutschen Fussball-Bundes oder vergangenen Dezember in Paris, als dort der Europäische Rat tagte.

Überall skandierten die Aktivisten Parolen wie «Vom Gericht verurteilt, vom Verband freigesprochen!». Oder: «Fifa und Uefa, wo ist eure Null­toleranz?»

Es sind Fragen, die Ibrahim Ertürk umtreiben. Er sitzt an einem Donnerstag Ende März in seinem Büro in ­Sinsheim, trinkt Tee und sagt: «Ich lasse nicht mit mir spielen, auch wenn ich klein bin.»

Eine gekaufte Meisterschaft

Die Entwicklung im grössten Manipulationsskandal, der den türkischen Fussball je erschüttert hat, empört nicht nur Ertürk. In der Saison 2010/11 erkaufte sich Fenerbahçe Istanbul den Titel in der Süper-Lig, gewann 16 von 17 Spielen in der ­Rückrunde. Nach achtmonatiger Ermitt­lung startete am 3. Juli 2011 die Aktion «Saubere Stollen». 93 Personen wurden angeklagt, mehr als 30 Spieler und Offizielle inhaftiert, auch bislang als unantastbar geltende Pro­tagonisten des türkischen Fussballs, darunter Aziz Yildirim, Präsident von Fenerbahçe Istanbul.

13 Partien jener Saison gelten als verschoben, auch der 4:3-Sieg von Fenerbahçe gegen Sivasspor am letzten Spieltag, der «Fener» den Titel sicherte. Yildirim wurde von einem Straf­gericht zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt «für die Bildung und Leitung einer organisierten Bande». Er streitet alles ab und hat Berufung eingelegt. Yildirim ist derzeit auf freiem Fuss und amtiert als Präsident von Fenerbahçe. Im Mai 2012 wurde er im Gefängnis wiedergewählt.

Aufgrund des Drucks der Uefa strich der Türkische Fussballverband (TFF) Fenerbahçe in der Saison 2011/12 von der Meldeliste der Champions League. Yildirim aber inszenierte sich von Anfang an als Opfer einer Verschwörung. Er ist einer der reichsten Männer der Türkei, hat sein Geld unter anderem durch den Bau von Militärbasen für die Nato verdient.

Verschwörungstheorien weit über den Fussball hinaus

So reicht der Skandal über den Fussball hinaus. Seit Jahren tobt in der Türkei ein Kulturkampf zwischen Kemalisten und Militär auf der einen Seite und der regierenden, islamisch geprägten AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auf der anderen. Fenerbahçe gilt als Bastion des Militärs und der Kemalisten.

Eine Verschwörungstheorie lautet: Muss Yildirim büssen, weil er 2009 eine Nato-Ausschreibung für Bau und Renovierung eines Militärkomplexes gegen die Holding der Schwiegereltern der Tochter des Ministerpräsidenten gewonnen hat? Den kriminellen Machenschaften im Fussball kam die Staatsanwaltschaft durch abgehörte Telefongespräche im Zuge der Ergenekon-Ermittlungen eher zufällig auf die Spur.

Im Ergenekon-Prozess geht es um Putschpläne hochrangiger Militärs, Politiker, Richter und Journalisten gegen die AKP-Regierung von Ministerpräsident Erdogan. Durch das Abhören von Yildirim erhoffte sich die Staatsanwaltschaft offenbar Erkenntnisse über die Finanzierung der Putschisten. Weil sich das Verfahren im Fussball so lange hinzog und Yildirim erst im Juli 2012 verurteilt wurde, konnte sich der Fenerbahçe-Präsident in Teilen der Öffentlichkeit und bei den Fans des Clubs in einer Märtyrer-Rolle inszenieren. Das Strafgericht aber hielt sich an die Beweise.

Der Verband will keine Beweise gefunden haben

Der türkische Fussballverband TFF tat das nicht. Das Sportgericht des TFF habe keine Beweise für Korrup­tion gefunden, erklärte der Verband, kein Verein wurde bestraft. Einige Angeklagte wurden lediglich mit Sperren belegt.

Zu Beginn der Ereignisse war die Hoffnung auf Veränderung bei den liberalen Kräften in der Türkei noch gross. Doch spätestens mit der Wahl von Yildirim Demirören im Februar 2012 zum neuen Präsidenten des nationalen Verbandes ist diese Hoffnung gestorben.

Demirören war zuvor Präsident von Besiktas Istanbul. Wegen der Manipulation des Pokalfinals 2011 waren der damalige Manager und Trainer von Besiktas verurteilt worden. Doch drei Monate nach seiner Wahl verkündete der Öl- und Gasmagnat Demirören, auch er einer der reichsten Männer der Türkei, es habe aus Sicht des TFF keine erfolgreichen Manipulationen gegeben.

Klammheimlich wurden die Strafen gemildert

In einem Nebensatz erklärte er, der Verband habe Paragraf 58 seiner Statuten geändert, der die Strafen bei Manipulation regelt. Ursprünglich sah dieser Passus bei Spielmanipulation den Zwangsabstieg der betroffenen Clubs und lebenslange Sperren der involvierten Personen vor. Nach der Abänderung ist der Zwangsabstieg plötzlich auf Bewährung ausgesetzt oder durch Punktabzüge ersetzt.

«Für die Änderung von Paragraf 58 muss man sich schämen», sagt Ibrahim Ertürk und fragt: «Ist es gerecht, die Gesetze zu ändern?» Es geht vielen Fussballfans in der Türkei so wie Ertürk, der sich vom Reinwaschen der Angeschuldigten durch den Verband betrogen fühlt. «Man hat uns ­alles verdorben», sagt er.

Der Antrieb hinter der handstreichartigen Statutenänderung scheint vielen Beobachtern offensichtlich. «Die Mächtigen im Fussball taten und tun alles, um das System zu retten», sagt der Politologe und Fussball­analyst Tanil Bora von der Universität Ankara.

Im türkischen Fussball geht es um viel Geld. Die grossen Vereine sind börsenkotiert, der Fernsehvertrag mit LigTV garantiert den Clubs der Süper-Lig über 400 Millionen Dollar pro Spielzeit. Auf Druck des Senders wurde ein zusätzliches Playoff-System eingeführt. Offiziell hiess es, man könne so Spielabsprachen vermeiden.

Keine Selbstreinigungskräfte

In Wahrheit, vermuten viele, geht es nur darum, mehr TV-Abos zu ver­kaufen. Ein Zwangsabstieg von Fenerbahçe wäre in diesem Zusammenhang ein gewaltiger Rückschlag für die Fussballwirtschaft in der Türkei. Der Politologe Bora sagt: «Der Fussball in der Türkei hat keine Selbst­reinigungskräfte.»

Doch statt Hoffnung, dass Druck von aussen durch die Dachverbände Uefa und Fifa die Verhältnisse ve­rändert, hat Aktivisten wie Ertürk längst Frust erfasst. Auf dem Uefa-Kongress im März 2012 in Istanbul hatte der türkische Ministerpräsident Erdogan erklärt, in Demokratien gehörten Personen, nicht Körperschaften bestraft. Wer Clubs bestrafe, bestrafe Millionen von Fans. Erdogan ist pikanterweise Fenerbahçe-Fan.

Uefa-Präsident Michel Platini teilte Erdogans Meinung damals nicht, es sei bei Manipulationen nicht möglich, Clubs von Personen zu unterscheiden. Doch bislang hat die Uefa die Urteile des TFF nicht kassiert. Stattdessen rückt in den Augen der Aktivisten auch die Uefa ins Zwielicht.

Fenerbahçe hat längst eine Klage gegen Uefa und TFF auf Schadenersatz beim Internationalen Sport­gerichtshof CAS in Lausanne zurückgezogen. Es ging um die verhinderte Teilnahme an der Champions League in der vergangenen Saison, Streitwert: 45 Millionen Euro. Kommentatoren glauben, der Club habe eingelenkt, um die Chancen der Türkei bei der Vergabe der EM 2020 nicht zu beschädigen.

Bei Platinis Euro 2020, verteilt auf den gesamten Kontinent, gilt der Standort Istanbul als heisser Kan­didat für die Halbfinals und das Endspiel. Ausserdem ist die türkische ­Yapi Kredi Bank seit dieser Saison ein Sponsor der Champions League. Ein ehemaliges Vorstandsmitglied von ­Fenerbahçe soll bei der Bank Miteigentümer sein

«Die Türkei hat keine Grossereignisse verdient»

«Die Türkei hat es nicht verdient, grosse Sportereignisse austragen zu dürfen», meint Ertürk. Das sagt ein Mann, der seit Kindesbeinen Fussballanhänger ist. Selbst Spiele der türkischen Nationalmannschaft schaut er sich nicht mehr an. «Ich bin nicht gegen Fenerbahçe, es ist ein gesellschaftliches Problem», sagt Ertürk, «man kann nicht alles unter den Teppich kehren.»

Im «International Sports Law Journal» heisst es in einer Einschätzung zum Manipulationsskandal in der Türkei: «Der Umgang des TFF mit diesem Fall kann in einem Satz zusammen­gefasst werden: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.» Und: «Dass Clubs nicht für die Handlungen ihrer Präsidenten und Vorstände verantwortlich seien, ist schlicht absurd.»

Fenerbahçe durfte nicht nur den Meistertitel behalten, sondern auch die 30 Millionen Euro Meisterprämie. Keines der 13 manipulierten Spiele wurde aus den Ergebnislisten gestrichen. Eine Klage von Vizemeister Trabzonspor vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wurde abgeschmettert.

Ertürk ist Trabzonspor-Fan, doch dieser Umstand sei nicht der Grund für seine Empörung und sein Engagement. «Das macht vielleicht 20 Prozent aus, aber hier geht es um Grundsätzliches. Um das Vertrauen in den Sport und das Rechtssystem. Ich mache das auch für die nachfolgenden Generationen, es muss sich was ändern», sagt Ertürk.

Der Blutdruck ist gestiegen

Der Mann mit dem grauen Schnauz sieht es als Pflicht eines Bürgers, aktiv zu werden, wenn er glaubt, es läuft etwas schief in der Gesellschaft. Erst jüngst veröffentlichte die «Rhein-Neckar-Zeitung» einen Leserbrief Ertürks, in dem er sich über die häufigen Aufmärsche von Rechten in Sinsheim beschwerte. Seit er sich in die Sache mit dem Manipulationsskandal in der Türkei verbissen hat, sei sein Blutdruck nach oben gegangen, erzählt er.

Eine fünfstellige Summe sei schon zusammengekommen für die Anreise und Verpflegung bei den Aktivitäten in ganz Europa. Ibrahim Ertürk ist bereit, bis an die Grenzen zu gehen für seine Überzeugung. Er sagt: «Wenn sich nichts ändert, bin ich bereit für einen Hungerstreik vor der Uefa-Zentrale in Nyon.

Quellen

Die Uefa erklärt am 12. Juli 2011, sie überwache die Entwicklung in der Türkei: http://www.uefa.com/uefa/aboutuefa/news/newsid=1650460.html

Goal.com berichtet am 28. Dezember 2011, die Uefa warne die türkischen Clubs vor Ausschlüssen aus dem Europacup: http://m.goal.com/s/en-us/news/2821944/

Die AFP am 30. April 2012 über die anstehenden Anhörungen der beschuldigten Clubs vor dem Disziplinargericht des türkischen Fussballverbandes TFF: http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5iGHTEZR96NdAo-jIvut1Ygm0OS6w?docId=CNG.01c448e0908ac14379bba9f8c5679e0f.2f1

Am 22. März 2013 berichtet die «Zeit» über die Aktivisten rund um Ibrahim Ertürk: http://www.zeit.de/sport/2013-03/tuerkei-spielmanipulation-fenerbahce-uefa

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.04.13

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