Europa geht es gut

Die Einstellung zum Gemeinschaftsprojekt EU ist stark situationsabhängig: Auch wenn eine Personalie aus Brüssel derzeit für Kritik sorgt, ist die politische Grosswetterlage eher positiv.

EU-Kommissionspräsident Juncker (vorn) droht mit dem Rücktritt, falls sein Mitarbeiter Martin Selmayr resignieren sollte.

Geht es Europa tatsächlich gut? Es durchlebt doch gerade einen ausgewachsenen Skandal wegen der umstrittenen Ernennung des neuen Generalsekretärs der EU-Kommission. Der deutsche CDU-Mann Martin Selmayr, bis vor Kurzem noch Jean-Claude Junckers Kabinettchef, wurde in einem putschartigen Verfahren auf diesen wichtigen Posten gehievt.

Er ist nun, 47-jährig, Chef von rund 32’000 Kommissionsbeamten, was aber weniger wichtig ist als die zentrale Schaltfunktion auf der Ebene der 28 Kommissare. Diese bilden, woran immer wieder erinnert werden muss, immerhin die Regierung der EU.

Der Streit hat verschiedene Facetten. Eine ist wohl die Person selber. Seine berufliche Qualifikation war nicht das Problem. Der Baden-Württemberger hat einen Teil seiner Ausbildung in der Schweiz absolviert. 1991/92 studierte er am Genfer Europainstitut. Dort verfasste er, betreut vom Schweizer Staatssekretär Franz Blankart, eine Diplomarbeit zu den Verhandlungen über den EWR.

Empörung im EU-Parlament

Selmayr steht im Ruf, «streitbar», «rücksichtslos» und ein «mächtiger Bürokrat» zu sein. Nationalität und Parteizugehörigkeit haben zu zusätzlichen Vorbehalten geführt: Einige fragen sich, ob es gut sei, einen Merkel-Mann an der Spitze der EU-Verwaltung zu haben. Es war aber vor allem das wenig transparente, eine offene Ausschreibung vermeidende Wahlverfahren, das im EU-Parlament grosse Empörung ausgelöst hat.

Die politische Seite fühlte sich von der Verwaltungsseite über den Tisch gezogen. Nur wenigen, aber vor allem dem einzigen Anwärter war bekannt, dass auf den 1. März die Stelle neu zu besetzen war. Wer war eigentlich sein Vorgänger? Der eher unscheinbare Niederländer Alexander Italianer, er ist mit 62 in Rente gegangen.

Es war der französische Journalist Jean Quatremer, EU-Korrespondent der Zeitung «Libération», der am 11. März 2018 im Hinblick auf eine Versammlung des EU-Parlaments den Fall publik gemacht und zugleich mit einer Anleitung zur Einschätzung versehen hat: Der Beförderte habe sich sozusagen selber befördert und damit der EU-Kommission und der europäischen Idee «unglaublich schweren Schaden» zugefügt. «Denn die Affäre führt uns eine technokratische EU vor Augen, in der die Politiker die Macht an zielstrebige Eurokraten abgeben.»

Während aus der Sicht der Basis das ferne «Brüssel» als kompaktes Monster wahrgenommen wird, zeigt dieser Konflikt, dass es innerhalb des EU-Komplexes doch die üblichen Gegensätze der Gewalten und innerhalb der Exekutivgewalt (wie bei nationalen Systemen) eine gewisse Abhängigkeit der Magistraten von ihren theoretisch Untergebenen gibt.

Ein Motiv der schnellen Ernennung bestand darin, Selmayr das zentrale Amt über 2019 hinaus zuzuschanzen.

Die Causa beschäftigt «Brüssel» seit Wochen, das kürzlich abgehaltene Hearing des Haushaltskontrollausschusses war bloss der jüngste Akt. Und in 14 Tagen kommt die Sache nochmals ins Parlament. Die Kommission gab Auskunft, vertrat aber auch die Meinung, dass der Vorgang die Öffentlichkeit nichts angehe, weil es sich um einen «kommissionsinternen Vorgang» handle.

Der Chef der Exekutiven dürfte das Spiel gewonnen, aber auch einen heftigen Tritt ans Bein bekommen haben. Reputationsschaden nennt man das. Juncker drohte, selber zurückzutreten, falls sein engster Mitarbeiter wegen der angemeldeten Vorbehalte resignieren würde. Doch man wird sich mit der Situation wohl abfinden, sie dauert ja nicht mehr lange. Nur noch ein Jahr, dann sind Wahlen in der EU, und dann wird der stark gealterte und von seinem ehemaligen Kabinettchef ebenso stark abhängige Juncker abtreten.

Sicher wird es einen neuen Kommissionspräsidenten geben, darum vielleicht auch einen neuen Generalsekretär, obwohl ein Motiv der schnellen Ernennung gerade darin bestand, Selmayr das zentrale Amt über 2019 hinaus zuzuschanzen.

Junckers Rücktrittsdrohung machte die Sache noch schlimmer. Sven Giegold, EU-Abgeordneter der  Grünen und Landsmann Selmayrs, kritisierte sie als «Respektlosigkeit gegenüber der demokratischen Aufklärung». Es sei «grotesk, dass der EU-Kommissionspräsident sein Schicksal von der Karriere eines EU-Beamten abhängig» mache. Juncker stehe im Dienst der europäischen Bürger und nicht seines Mitarbeiters.

«Die EU ist nicht besser als China»

EU-Bürger und -bürgerinnen haben als Zuschauende die Wahl, welchen Akteuren in diesem Drama sie ihre innere Zustimmung geben wollen. Bei solchen Vorkommnissen steht aber immer auch der Ruf des gesamten Unionsprojekts auf dem Spiel. Dabei könnte es um die in der EU jährlich zweimal erhobene Pauschalfrage gehen, ob das Europagebilde eine «gute Sache» sei.

Gleich dahinter lauert im verneinenden Fall jedoch die weitere Frage, ob es «Europa» überhaupt geben soll oder nicht. Es gibt ja, gerade in der Schweiz, die Meinung, dass die EU eine Fehlkonstruktion sei. Schweizer werden nicht gefragt, aber gerade die schweizerischen Europagegner haben trotzdem ihre Meinung.

Ein «Zeit»-Bericht zu Junckers Drohung generierte 176 Kommentare. Unter diesen würden sich, wenn man alle durchklickte, wohl kaum verständnisvolle finden lassen. Wenig erstaunlich sind zum Beispiel die Zeilen: «Ich mache eine Flasche Sekt auf, wenn Juncker geht. Nur, wer kommt dann? Das Beste wäre, die EU komplett aufzulösen. Ja zu Europa, Nein zur EU.» Ein anderer Kommentar meint, die Kommission habe tatsächlich die Legitimation verloren, undemokratische Machenschaften in Ungarn oder Polen zu kritisieren.

Ein weiterer Kommentar: «Hat irgendjemand etwas anderes erwartet? Die EU ist nicht besser als die USA, Russland oder China – überall werden einflussreiche Jobs ‹unter der Hand› an treue, loyale ‹Kopfnicker› vergeben. Mit Demokratie hat das längst nichts mehr zu tun!»

Steilvorlage für EU-Verächter

Opportunismus kann man dem neuen Generalsekretär nicht vorwerfen. Wenn es problematische Treue gibt, dann ist es diejenige des Chefs gegenüber seinem Mitarbeiter. Bemerkenswert, dass auch in diesem Fall die Demokratie vorgebracht wird, obwohl sie davon nicht tangiert ist. Es geht um Transparenz, um Good Governance, auch um Stil und Anstand. Müsste die EU besser sein, darf sie nicht einfach guter wie schlechter Normalität entsprechen?

Ein von der «Zeit» selber produzierter Kommentar bemerkte, dass Juncker mit der zweifelhaften Beförderung seines engsten Mitarbeiters eine Steilvorlage für die EU-Verächter sei und die Glaubwürdigkeit der Europäischen Kommission aufs Spiel setze.

Die EU ist stets auf Bewährung angewiesen, im Gegensatz zum Nationalstaat, der sich viel leisten kann, auch Personalien à la Selmayr/Juncker. Diese würde man zwar ebenfalls kritisieren, aber nicht kombiniert mit einer Infragestellung der Nation. Die Nation bleibt das Nest der eigenen Verortung, während «Europa» eine äussere Projektionsfläche und nicht Heimat ist.

Missmut, Ablehnung und schnelle Empörungsbereitschaft gegenüber der EU sind zur vorherrschenden Haltung geworden.

Geht es Europa tatsächlich gut? Gewiss könnte es Europa, wie immer, besser gehen. Doch das Gemeinschaftsprojekt profitiert derzeit von günstigen Umständen: von einer guten Wirtschaftsentwicklung, von den exaltierten Ausfällen des amerikanischen Präsidenten und der wieder wachsenden Bedrohung «aus dem Osten». Mehrheitlich also von einem Umfeld, das dem inneren Zusammenhalt förderlich ist.

Obwohl die politische Grosswetterlage für die EU eher positiv ist, kann man nicht davon ausgehen, dass sich dies auch auf die Grundeinstellungen positiv auswirken wird. Das war mal anders. Bis in die 1990er-Jahre profitierte das Gemeinschaftsprojekt trotz Kritik an Einzelnem von einer Grundzustimmung. In der Fachliteratur ist von einem «permissiven Konsens» die Rede.

Eine Kombination von verschiedenen Faktoren bewirkte in den Nullerjahren jedoch, dass Missmut, Ablehnung und schnelle Empörungsbereitschaft gegenüber der EU zur vorherrschenden Haltung geworden sind, obwohl die Ursachen dafür weniger bei der EU als in negativen Effekten der Globalisierung und in der Unzufriedenheit mit den eigenen, nationalen Regierungen liegen.

Bemerkenswerte Solidaritätsbekundungen

Die Einstellung zum Gemeinschaftsprojekt ist stark situationsabhängig. Man könnte mit britischen Buchmachern eine Wette abschliessen, dass die Brexit-Abstimmung anders ausgegangen wäre, wenn sie nach dem Giftmordanschlag auf den russischen Agenten Skripal und seine Tochter und nach den bemerkenswerten Solidaritätsbekundungen von EU-Mitgliedstaaten stattgefunden hätte.

Der abgesehen von Selmayr-Gate und ein paar anderen Punkten derzeit doch recht gute Zustand der EU und ihr entsprechend leicht besserer Ruf bilden eine günstige Voraussetzung, sich auf die wesentlichen Zweckbestimmungen der EU zu besinnen und diese Erkenntnisse gleichsam als Notvorrat in weniger gute Zeiten hinüberzunehmen, die es bestimmt auch wieder geben wird.

Georg Kreis: Gerechtigkeit für Europa. Eine Kritik der EU-Kritik. Schwabe Verlag, 2017. 329 S.

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