Europa «goes east»

Nach Slowenien ist seit Anfang Juli mit Kroatien der zweite ex-jugoslawische Staat EU-Mitglied. Weitere werden folgen. Das stellt die EU und auch die Schweiz vor Probleme.

Verschobene Aussengrenze: Das Neumitglied Kroatien bildet für die EU eine Brücke in den Balkan. (Bild: ANTONIO BRONIC / Reuters)

Nach Slowenien ist seit Anfang Juli mit Kroatien der zweite ex-jugoslawische Staat EU-Mitglied. Weitere werden folgen. Das stellt die EU und auch die Schweiz vor Probleme.

Kroatien ist am 1. Juli als 28. Land der Europäischen Union beigetreten. Der Vorgang hat ausserhalb Kroatiens nur wenig Beachtung gefunden. Auch die Zahlen sind nicht imposant: Die Bevölkerung der EU ist um 0,87 Prozent (4,4 Millionen Menschen) gewachsen, ihr Bruttoinlandprodukt (BIP) um 0,34 Prozent.

Dass die Sache dennoch wichtig ist, wird man in der Schweiz spätestens dann zur Kenntnis nehmen, wenn die Personenfreizügigkeit an die neuen Verhältnisse angepasst werden muss und weitere Kohäsionszahlungen fällig werden. Doch darum geht es hier – noch – nicht.

Neue Aussengrenze

Fakt ist: Die Grenzen und damit die Zugehörigkeiten haben sich verschoben sowie die Definitionen von «drinnen» und «draussen». Die EU hat für einige Zeit eine neue, extrem lange Aussengrenze von 1377 Kilometern erhalten. Aus «westlicher» Sicht handelt es sich bei dem Beitritt um eine weitere Osterweiterung.

Aus kroatischer Sicht ist er die Bestätigung für eine alte Zugehörigkeit zur westlichen Zivilisation. Drinnen ist nun eine erzkatholische Gesellschaft, draussen ist «Rest-Jugosla­wien», das mehrheitlich christlich-­orthodox oder muslimisch ist. Das sollte man nicht unterschätzen.

Doch die nun schärfer abgetrennten östlichen Gebiete sind – für Kroatin ohnehin, aber auch für die EU –auch in Zukunft nicht unwichtig. Das neue EU-Mitglied wird, wie Polen gegenüber der Ukraine, statt sich in der Region abzugrenzen, vermehrt eine Brückenfunktion wahrnehmen müssen – also keine Flucht vom Balkan.

Kroatien hat zwar die mitteleuropäische Freihandelsarea (Cefta), in die 40 Prozent des kroatischen Exports gehen, verlassen müssen. Grossfirmen haben sich aber bereits mit Tochtergesellschaften ein Verbleiben jenseits der neuen Grenze gesichert.

Die Hauptfrage ist jedoch, wie die kroatische Wirtschaft im gemeinsamen europäischen Markt bestehen kann. Der Anteil der Exporte am Bruttoinlandprodukt (BIP) liegt bei nur 20 Prozent, und in der umgekehrten Richtung liegen expansive Kräfte (Lidl und Co.) auf der Lauer. Sehr wichtig wird sein, ob ­Kroatien die gut ausgebildete Jugend im eigenen Land behalten kann.

Ein Traum mit Tücken

Ist die EU mit dem Neumitglied nun stärker oder schwächer geworden? Erweiterung und Mengenwachstum bedeutet ja nicht automatisch Stärkung. Mit Kroatien kommt wohl ein weiterer eher strukturschwacher ­Nettobezüger hinzu, der insgesamt mehr kostet als nützt. Brutal aus­ gedrückt, geht es für die EU weniger um einen Gewinnzuwachs im Inneren als darum, einen Problemstaat in der unmittelbaren Nachbarschaft nicht draussen zu lassen.

Hat sich die Situation für Kroatien verbessert oder verschlechtert? Kroatiens Staatspräsident Josipovic erklärte, mit dem Beitritt sei ein Traum mehrerer Generationen in Erfüllung gegangen. Jetzt muss zu den Träumen ein anhaltender, von individueller wie kollektiver Leistungsbereitschaft begleiteter Aufbruchswillen kommen.

Dafür braucht es auch Erfolgs­aussichten – und diese sind bei einer Jugendarbeitslosigkeit von gegen 50 Prozent im Moment nicht gerade mit Händen zu greifen. Die Strahlkraft der EU war auch schon besser. Immerhin bewahrt die Ernüchterung vor einem falschen Enthusiasmus.

Zum Traum müssen Leistung und Aufbruchswillen kommen.

Kroatien, darin sind sich alle Kommentatoren einig, hat seit der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen 2005 beträchtliche, aber noch nicht genügende Fortschritte gemacht. Es gibt noch immer eminenten Reformbedarf punkto Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Abbau des nationalistischen Überlegenheitsdünkels. Das Erste kann man einfordern, das Zweite kann man entwickeln, das Dritte müsste dann von alleine kommen.

In der Frage nach der Bedeutung des Beitritts ist zwischen «sogleich» und «später» zu unterscheiden. In der grossen Perspektive ist die Aufnahme Kroatiens ein guter Entscheid. Wichtig ist jedoch, dass in der Gegenwart keine Fehler gemacht werden.

Wie die Erfahrungen mit Bulgarien und Rumänien gezeigt haben, besteht nämlich die Gefahr, dass der im Vorfeld des Beitritts an den Tag gelegte Reformeifer nachlässt, wenn man, wie im Fall der beiden genannten Länder, einmal Mitglied des Clubs geworden ist. Deshalb müssen die bereits bestehenden Überwachungsmechanismen der EU dafür sorgen, dass Kroatien vor allem beim Abbau der Korruption auf dem guten Weg bleibt.

Kroatien ist ein vergleichsweise leichter, aber nicht der letzte Beitrittsfall. Serbien, für das bereits im Januar 2014 die Beitrittsverhandlungen eröffnet werden, wird folgen, danach sind die übrigen südosteuro­päischen Staaten an der Reihe. Schnell wird das allerdings nicht gehen. Im Fall Serbiens heisst es, dass ein Beitritt in sieben Jahren bereits ein ehrgeiziges Ziel sei.

Die EU hat dazugelernt

Die EU ist auf dem Weg, etwas besser zu machen, was vor zwei Jahrzehnten beim Zerfall Jugoslawiens mit ihrer Beteiligung und Mitverantwortung sehr schlecht gelaufen ist. Mit der Aufnahme Sloweniens 2004 machte sie nur einen ersten Schritt.

Eine Ironie der Geschichte besteht darin, dass die damals auseinanderstrebenden jugoslawischen Teilrepubliken unter dem Dach der EU wieder zusammenfinden werden, jetzt aber unter völlig neuen Bedingungen: im Gegensatz zum damaligen Staatssozialismus in einem System des demokratisch abgefederten Kapitalismus.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 02.08.13

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