Europa-Land ist Nato-Land

Die 28 Mitgliedstaaten der Nato haben sich kürzlich in Wales (UK) zu ihrem Jahresgipfel getroffen. Dies hätte ein Geburtstagsfest für die 65 Jahre zuvor gegründete Verteidigungsgemeinschaft werden können. Das Hauptthema war dann aber die Ukraine, deren Regierung den Nato-Beitritt anstrebt.

(L-R) Dutch Prime Minister Mark Rutte, Croatia's President Ivo Josipovic, Slovenian acting Prime Minister Alenka Bratusek, NATO Secretary-General Anders Fogh Rasmussen, Britain's Prime Minister David Cameron and U.S. President Barack Obama watch a fly-past by the Red Arrows during the NATO summit at the Celtic Manor resort, near Newport, in Wales September 5, 2014. The resort is the venue for the two day NATO summit which started on Thursday. REUTERS/Andrew Winning (BRITAIN - Tags: MILITARY POLITICS) - RTR451CW (Bild: © Andrew Winning / Reuters)

Die 28 Mitgliedstaaten der Nato haben sich kürzlich in Wales (UK) zu ihrem Jahresgipfel getroffen. Dies hätte ein Geburtstagsfest für die 65 Jahre zuvor gegründete Verteidigungsgemeinschaft werden können. Das Hauptthema war dann aber die Ukraine, deren Regierung den Nato-Beitritt anstrebt.

Im Prinzip kann jeder europäische Staat zum Nato-Beitritt eingeladen werden. So steht es in Artikel 10 des Nordatlantikvertrages. Zugleich wird allerdings eingeschränkt, dass der einzuladende Staat in der Lage sein müsse, zur Sicherheit des nordatlantischen Hoheitsgebiets beizutragen.

Zusätzliche Mitgliedschaften bedeuten aber nicht automatisch eine Stärkung des Bündnisses, sie könnten auch Schwächung bedeuten: Artikel 5 sieht bekanntlich eine Beistandspflicht vor. Und diese könnte gerade bei Neumitgliedern, die sich wegen ihrer Gefährdung unter Nato-Schutz begeben wollen, zu einer Risikoerhöhung führen und darum nicht im Interesse der alten Mitglieder liegen.

Daneben gibt es übrigens im EU-Vertrag von Lissabon (2007) in Artikel 42.7 auch eine weitere, weniger bekannte Beistandsklausel, die vorsieht, dass «im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung (schulden)». 

Die Unterstützung, die sich die einzelnen Nato-Mitglieder im Falle eines Angriffs eines Mitgliedstaats schulden, reicht theoretisch vom tröstenden Telefonanruf bis zum Atomwaffeneinsatz.

Bezüglich der Ostpolitik nehmen die Nato-Staaten keine einheitliche Haltung ein. Spaniens Interessen beispielsweise decken sich nicht automatisch mit denjenigen Polens, das sich stärker für den Schutz des ukrainischen Nachbarn einsetzt. Neben dem im Nordatlantikrat geltenden Einstimmigkeitsprinzip, also der Vetomöglichkeiten der Mitglieder, kennzeichnet gerade diese Art von Pluralismus innerhalb einer gemeinsamen Grundhaltung das atlantische Bündnis.

Dies ist relevant für die Unterstützungsbereitschaft der einzelnen Nato-Mitglieder. Dem in Artikel 5 festgeschriebenen militärischen Beistand liegt nämlich kein Automatismus zugrunde. Er lässt den Regierungen der Nato-Länder Spielraum. Die Spannweite reicht theoretisch, wie dies Jochen Bittner in der «Zeit» anschaulich formuliert hat, «vom tröstenden Telefonanruf bis zum Atomwaffeneinsatz».

Bereits am Nato-Gipfel, der 2008 in Bukarest (also in einem ehemaligen Ostblockland) abgehalten worden ist, hatten sich die beiden gewichtigeren Westmächte Deutschland und Frankreich gegen einen Aktionsplan gewehrt, der die Ukraine und Georgien der Nato-Mitgliedschaft hätte näher bringen sollen. Man begnügte sich mit einem Versprechen auf ein späteres Dazugehören zu unbestimmtem Zeitpunkt. Aber immerhin.

Abstimmung über Nato-Beitritt?


Was eine allfällige Nato-Mitgliedschaft der Ukraine betrifft, fällt ins Gewicht, dass die Bevölkerung in dieser Frage tief gespalten ist. Die Aktionsplan-Perspektive von 2008 löste in Kiew – gewissermassen auf einem antiwestlichen «Maidan» – heftige Proteste aus, was das Parlament veranlasste, beruhigend in Aussicht zu stellen, dass vor einem allfälligen Nato-Beitrittsgesuch ein landesweites Referendum abgehalten würde.

Volksabstimmung über einen Nato-Beitritt? Das wäre wohl eine Premiere. Bemerkenswerterweise wurde in der sogenannten Osterweiterung beinahe überall mit hoher Selbstverständlichkeit via Volksbefragung über den EU-Beitritt abgestimmt (nicht belegt für Südzypern), hingegen nicht über die Nato-Mitgliedschaften.

In der Osterweiterung zeigt sich ein Zwei-Etappen-Muster ab: Den jüngsten EU-Beitritten gehen jeweils Beitritte zur Nato voraus.

Zwischen den beiden Mitgliedschaften (EU und Nato) besteht aber ein enger Zusammenhang. Den Beitritten zur wirtschaftlichen und politischen Vereinigung gingen jeweils Beitritte zum militärischen Bündnis voraus: Griechenland und die Türkei sind seit 1952 Nato-Mitglieder, Griechenland wurde aber erst 1981 EG-Mitglied, und die Türkei erhielt schon 1963 die EG-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt und stagniert noch immer im Prozess der Annäherung an die EU.

Das Zwei-Etappen-Muster zeigt sich auch in anderen Fällen: Spanien war bereits 1981 Nato-Mitglied, wurde aber erst 1986 EG-Mitglied. Polen, Tschechien und Ungarn konnten schon seit März 1999 Nato-Mitglieder sein, aber erst seit Mai 2004 EU-Mitglieder. Worin sich diese Fälle aber von Griechenland, der Türkei und Spanien unterschieden: Die neuesten Nato-Mitglieder waren zuvor Mitglieder des von der Sowjetunion geführten Warschauer Paktes.

Drei Nato-Osterweiterungen

Auch die folgenden Staaten, obwohl sie erst im Mai 2004 oder sogar erst 2007 EU-Mitglieder wurden, konnten alle schon im März 2004 der Nato beitreten – und zwar auf eine bereits im November 2002 ausgesprochene Einladung der Nato hin und nicht auf eigenen Antrag, wie dies in der EU üblich ist: Die Einladung galt den drei baltischen Staaten Litauen, Lettland, Estland, sowie Slowenien und Slowakei, Rumänien und Bulgarien. Das war nach der ersten Nato-Osterweiterung von 1999 (mit Polen, Tschechien und Ungarn) nun bereits die zweite. Allerdings hätten bereits die Aufnahmen Griechenlands und der Türkei ebenfalls als Nato-Osterweiterung bezeichnet werden können.

Die dritte Nato-Osterweiterung fand 2009 statt und betraf mit den Nummern 27 und 28 als jüngste Mitglieder Kroatien und Albanien, obwohl das eine Land erst im April 2014, also fünf Jahre später, EU-Mitglied wurde und das andere es noch längere Zeit nicht sein wird. Weitere Länder sind bereits in der Pipeline: Mazedonien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Georgien und die Ukraine. Das traditionell stark mit Russland verbundene Serbien will nicht in die Nato, sondern sich mit Partnerschaft begnügen.

Ein gebrochenes Versprechen?

Wegen des an sich verständlichen Unwillens Russlands über die Aussicht, mit der ukrainischen «Schwesterrepublik» auch einen grossen Pufferstaat und potenziellen Kompagnon einer Eurasischen Union zu verlieren, ist plötzlich ein angebliches Versprechen wichtig geworden: In den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung vom Frühjahr 1990 soll versichert worden sein, dass sich deswegen die Nato nicht Richtung Osten ausdehnen werde. Solche Erklärungen erfolgten bloss mündlich, bezogen sich bloss auf die DDR und waren Bemerkungen bloss einzelner Regierungsmitglieder – ohne schriftliche Bestätigung (vgl. dazu den Essay «A Broken Promise?» der Harvard-Historikerin Mary Elise Sarotte).

Mit Russland dagegen kam 1997 immerhin eine «Grundakte» zustande, in der geregelt wurde, dass es in den künftigen Nato-Staaten des ehemaligen Ostblocks keine umfangreichen und dauerhaften Truppenstationierungen der Nato geben soll. Darum begnügt sich das Westbündnis heute damit, dort rotierend präsent zu sein, ohne dauerhaft stationierte Truppen. Es begnügt sich mit Stützpunkten statt Basen, mit temporären Manövern (selbst in der Ukraine!), mit Defensiv- und nicht Offensivszenarien. Und dahinter, das heisst in den Territorien westlich des ehemaligen «Eisernen Vorhangs», begnügt es sich damit, eine «schnelle Eingreiftruppe» bereitzustellen. Aufgabe der Nato ist es, die mittel- und osteuropäischen Partner angesichts des russischen Säbelrasselns zu beruhigen, ohne dabei den Kreml zu provozieren.

Die Nato ist trotz ihrer Expansion gegen Osten im Prinzip eine Verteidigungsgemeinschaft geblieben.

Die Nato ist 1949 als Verteidigungsbündnis geschaffen worden. Ohne dieses hätte keine EG/EU entstehen können. Eine Verteidigungsgemeinschaft ist sie trotz ihrer Expansion gegen Osten im Prinzip geblieben. Ihre Erweiterung ist nicht die Folge eines Eroberungsfeldzuges. Sie ist die Folge der vom «Westen» ausgehenden Attraktivität sowie die Folge, das muss ebenfalls gesagt sein, der anhaltenden Hegemonialpolitik, die von Russland betrieben wird, und der sich die ehemaligen Satelliten verständlicherweise entziehen wollen.

Militärische Kooperation setzt an sich keine weitgehende gesellschaftliche oder wirtschaftliche Übereinstimmung der Partner voraus. Darum konnte auf dieser Ebene die Osterweiterung schneller vorangehen und weiter ausgreifen. Die Nato trägt jedoch eine gewisse Mitverantwortung für die gesellschaftliche Qualität ihrer Clubmitglieder.

Im Hinblick auf die Ukraine und andere potenzielle Mitglieder besteht die Verpflichtung, jenseits geostrategischer Interessen darauf zu achten, dass der in der Nato-Präambel festgeschriebene Hauptzweck des Bündnisses auch bei jedem einzelnen Mitglied gewährleistet ist: Die Sicherung einer Ordnung, «die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts» beruht.

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