Die EU begeht den 60. Jahrestag der Verträge von Rom. Sie tut das in einer Zeit, in der die EU-Kritiker laut lärmen. Doch es gibt Anzeichen, dass auch das pro-europäische Lager wieder erwacht.
Am 25. März müssen die Repräsentanten der 27 EU-Staaten den 60. Geburtstag ihrer gemeinsamen Institution feiern. Und sie müssen aus dieser Gelegenheit etwas Gutes herausholen. Es wird allerdings nur eine Erklärung sein, eine, der schon so viele vorausgegangen sind. Das Heil wird sie nicht bringen.
Zu einem Jubiläum gehört, dass es den Ausgangspunkt, in diesem Fall den Vertrag von Rom, in Erinnerung ruft und die davon ausgegangene Erfolgsgeschichte rekapituliert. Da gibt es in diesem Fall viel zu erzählen.
Einmal das leicht wahrnehmbare quantitative Wachstum von 6 auf 28 Mitglieder. Dann die enorme wirtschaftsrechtliche Harmonisierung und im Gefolge auch die sozialrechtlichen Errungenschaften, sowie – man vergisst das gerne – die doch substanzielle Demokratisierung.
Weiterentwicklung kann auch Rückbau bedeuten
Diese sogenannten Achievements (Leistungen/Erfolge) werden seit einiger Zeit nicht mehr ihrer Bedeutung entsprechend gewürdigt. Einerseits werden sie als selbstverständlich angenommen. Andererseits wird die EU weitestgehend an ihren durchaus bestehenden Schwächen und Schwierigkeiten und an ihrem punktuellen Versagen gemessen.
Zudem wird im Hinblick auf den bevorstehenden Rückzug Grossbritanniens, das ohnehin nie so recht mitmachen wollte, in übertriebener Betonung stets von den «verbleibenden» 27 Mitgliedern gesprochen.
Die negative Wahrnehmung ist mittlerweile so stark, dass nicht wenige meinen, die EU gehöre abgeschafft oder radikal um- beziehungsweise neu gebaut, denn blosse Reformen würden nicht genügen. Die EU-Kommission hat diese Stimmung aufgenommen und mit einem Weissbuch gleich fünf Varianten möglicher Weiterentwicklung aufgezeigt, wobei «weiter» auch partiellen Rückbau nicht ausschliesst.
- Variante 1
Weiter wie bisher mit kleinen Reformschritten in verschiedensten Bereichen. - Variante 2
Klare Konzentration auf den Binnenmarkt unter Hintanstellung von Migrations- und Verteidigungspolitik. - Variante 3
Weiterentwicklung in mehreren Geschwindigkeiten (etwa bei Geheimdienstkooperation, Steuerregeln und Sozialstandards). - Variante 4
Akzentsetzung in der Harmonisierung (Rückbau etwa im Konsumentenschutz und in der Gesundheitspolitik, Ausbau im Handel und im Grenzschutz). - Variante 5
Flächendeckender Integrationsschub in allen Politbereichen und «mehr Europa».
Die EU kann es nicht nur nicht allen – gewissen Kritikern kann sie es überhaupt nie recht machen. Zeigt sie nur eine einzige Zukunftsperspektive mit Horizont 2025 auf, wird dies als uninspiriert und diktatorisch gewertet. Skizziert sie mehrere Wege, ist von einer führungslosen Auswahlsendung die Rede.
Am 25. März wird von den Staats- und Regierungschefs eine Stellungnahme erwartet. Indizien sprechen dafür, dass die Variante 3 im Vordergrund steht, bei der Abstufungen zwischen Avantgarde und Nachhut aber nur ganz klein sein dürften.
Florian Eders «werktägliches Briefing zur europäischen Politik» auf «Politico» formuliert es so: «Kein Kerneuropa, das sich auf und davon macht, und keine kleine Gruppe, die in Bereichen, die in ausschliesslich europäischer Zuständigkeit liegen, noch weiter geht, wie beim Euro, in der Handels- oder Wettbewerbspolitik. Die Tür wollen sie ‹allen aufhalten, die später dazukommen wollen›, wo die Tür im Entwurf zuvor lediglich ‹offen gelassen› werden sollte.»
Die Gedenkstunde als Durchlaufstation
Wie auch immer: Die Gedenkstunde vom 25. März auf dem römischen Kapitol ist bloss eine Durchlaufstation eines grösseren Prozesses, der lange vorher begonnen hat und danach noch lange andauern wird. Jedem «Vorher» ist naturgemäss ein anderes «Vorher» vorausgegangen.
Um beim Brexit einzusetzen: Im September 2016 gab es wegen des Ratsvorsitzes der Slowakei den Gipfel in Bratislava, der ebenfalls mit einem informellen Gipfel vom 29. Juni vorbereitet werden musste und selber einen vorbereitenden Reflexionsprozess für den 25. März 2017 in Rom in Gang setzen sollte. Darauf folgte am 10. März 2017 nochmals ein informeller Gipfel in Malta, das gerade den Ratsvorsitz hat.
Wie gehts nachher weiter? Die Kommission will für einzelne Politiksektoren Vertiefungspapiere erarbeiten, beim Gipfel vom Dezember 2017 sollen Richtungsentscheide fallen,das EU-Schiff soll dann mit bereinigten Vorstellungen in auf die Europawahl von 2019 zusteuern – das nächste grosse Rendezvous zwischen «oben» und «unten» …
Und noch vor wenigen Tagen (am 20. März) beugten sich EU-Diplomaten, die nun auch Sherpas (also so etwas wie Gepäckträger am Himalaya) genannt werden, stundenlang über den Entwurf der Erklärung zum 25. März und feilten an bedeutsam erachteten Details.
Bereit für eine breite Debatte
Nach diesem Festzurren von Aussagen soll der Prozess wieder geöffnet werden. EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker hatte schon bei der Präsentation des Weissbuches am 1. März 2017 erklärt: Nach dem Rom-Gipfel werde eine breite und offene Debatte angestossen.
So seien Diskussionen mit Bürgerinnen und Bürgern sowie Debatten in nationalen Parlamenten geplant. Schon in Bratislava hiess es, man werde sich «einer eindeutigen und aufrichtigen Sprache bedienen» und die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt stellen.
Bei diesen Bürgerinnen und Bürgern machte sich seit den 1990er-Jahren ein Missmut breit, der sich mit Vorliebe gegen die EU richtet, obwohl er auch andere Wurzeln hat: Unzufriedenheit mit den eigenen, nationalen Regierungen, weil diese ihre Bevölkerung zu wenig vor internationalen-globalen Fremdbestimmungen und allgemeinem gesellschaftlichem Wandel schützen würden.
Das Ende der stillschweigenden Zustimmung
Bis zu den 1990er-Jahren konnte das europäische Vergemeinschaftungsprojekt von dem profitieren, was in der Literatur «permissiver Consensus» – stillschweigende Zustimmung – genannt wird.
In den letzten Jahren aber entstand angesichts der immer lauter werdenden Europafeindlichkeit (befeuert von Nigel Farage, Geert Wilders, Marine Le Pen, Beppe Grillo, Frauke Petry, Hans-Christian Strache und anderen), dem Verstummen der EU-Sympathisanten und der Abwesenheit der ewig Desinteressierten ein schiefes Bild von der Akzeptanz der EU.
Inzwischen hat aber eine kleine Gegenbewegung eingesetzt. Gemäss Spiegel Online sind am vergangenen Sonntag, 19. März, mehrere Tausend Menschen in ganz Deutschland und mehreren europäischen Städten (auch bei schlechtem Wetter!) zeitgleich für ein geeintes Europa auf die Strasse gegangen.
Eine neue Bürgerinitiative
Sie wollen der herrschenden Schockstarre entgegenwirken und die Wahlen in Frankreich im Mai und in Deutschland im September vor einem europafeindlichen Ausgang bewahren. Bis zur Stichwahl in Frankreich vom 7. Mai will sich die Bewegung mit dem Namen «Pulse of Europe» jeden Sonntag treffen.
Bewegungsgründer Daniel Röder, ein Frankfurter Rechtsanwalt, betont, dass diese Bürgerinitiative keine parteipolitischen Ziele verfolge und sich für ein auch in politischer Hinsicht vielfältiges Europa einsetze. Er hatte schon am 15. Januar zur ersten dieser «Sonntagsdemos» in Frankfurt aufgerufen und da unter anderem auch die Wahlen in den Niederlanden im Auge.
Ein Blick auf die Website dieser Bürgerinitiative, die bereits einige lokale Ableger hat, lohnt sich. Dort findet man die Erklärung: «Wir sind überzeugt, dass die Mehrzahl der Menschen an die Grundidee der Europäischen Union und ihre Reformierbarkeit und Weiterentwicklung glaubt und sie nicht nationalistischen Tendenzen opfern möchte. Es geht um nichts Geringeres als die Bewahrung eines Bündnisses zur Sicherung des Friedens und zur Gewährleistung von individueller Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit.»
Die Mobilisierung der konstruktiven Kräfte ist durchaus möglich.
Die niederländischen Wahlen haben nicht zu dem von vielen befürchteten Durchbruch der EU-Gegner geführt. Die französischen wie auch die deutschen Wahlen werden mit grosser Wahrscheinlichkeit auch nicht anders verlaufen. Doch das kommt nicht von alleine so. Die Bereitschaft zur Militanz ist bei Anti-Gruppierungen tendenziell stets grösser als im Pro-Lager. Die Mobilisierung der konstruktiven Kräfte ist aber, wie man wieder einmal erlebt, durchaus möglich.
Nach dem gewiss kleinen, aber entscheidenden Sieg der rechtsliberalen Rutte-Partei gegen die rechtsextreme Wilders-Bewegung, ging ein Aufatmen durch Europa. Sicher hätte ein Durchbruch der extremen Nationalisten in Holland ihre Brüder und Schwestern in Frankreich und Deutschland ermuntert. Vom Sieg der niederländischen Bürgerlichen dagegen geht – leider – kaum eine analoge Ermunterung aus.
Man durfte sich an Thornton Wilders Theaterstück «Wir sind noch einmal davongekommen» (mit deutschsprachiger Uraufführung im März 1944 im Schauspielhaus Zürich) erinnern. Die in diesem Drama drohende Eiszeit in der Dynamik eines sich unaufhaltsam vorwärts schiebenden Gletschers machte quasi in letzter Minute vor dem behaglichen Wohnzimmer halt.
Das «Nochmals-Davonkommen» führt allerdings nicht für immer in eine warme Ruhezone. Immer wieder müssen wir dafür sorgen, dass wir noch einmal davonkommen beziehungsweise davon gekommen sein werden.