Facebook verhält sich in Indien wie die East Indian Company zur Kolonialzeit

Nach dem Scheitern der Free-Basics-Initiative in Indien werden Vorwürfe an Facebook laut. Will der Konzern mit seiner Technologie Entwicklungsländer kolonialisieren?

Internet für alle, verspricht Mark Zuckerberg. Gratis ist aber doch nur der Besuch von Seiten aus dem Facebook-Universum.

(Bild: Jeff Chiu)

Nach dem Scheitern der Free-Basics-Initiative in Indien werden Vorwürfe an Facebook laut. Will der Konzern mit seiner Technologie Entwicklungsländer kolonialisieren?

Wenn Mark Zuckerberg erklären will, warum er ein guter Mensch sei, erzählt er gern die Geschichte von Ganesh Nimbalkar. Ganesh, so geht die Erzählung, sei ein armer Bauer im indischen Bundesstaat Maharashtra, der sich mit seiner Frau Bharati seit Jahrzehnten abmühe, seinem Acker trotz Dürre eine Ernte abzuringen.

Doch seitdem er mit der Facebook-App Free Basics kostenlos ins Internet kann, sei er bestens über den Monsun und die Saatpreise informiert. Dank Facebook habe Ganesh seine Ernte verdoppeln und sogar in Nutztiere investieren können.

Mit seinem Projekt Internet.org, auch Free Basics genannt, will Facebook Schwellen- und Entwicklungsländer mit kostenlosem Internet versorgen. Allein, das Geschenk kommt bei den Menschen nicht gut an. In Indien protestierten 750’000 Menschen per Mail gegen die Pläne. Netzaktivisten sehen die Initiative als Verstoss gegen die Netzneutralität, also den Grundsatz, dass alle Daten gleich behandelt werden müssen. «Poor Internet for poor People», schlechtes Internet für arme Leute, lautete die Kritik.

Indische Behörde spricht Verbot aus

Dem Nutzer steht nämlich nicht das ganze Netz offen. Er bekommt nur ein paar Seiten samt Facebook angezeigt. Wer innerhalb der App einen Link anklickt, der zu den restlichen Seiten im Netz führt, muss draufzahlen. Mit Entwicklungshilfe hat das freilich wenig zu tun. Facebook geht es um seine Geschäftsinteressen. Vor wenigen Tagen hat die indische Telefonaufsichtsbehörde den Free-Basics-Dienst verboten. Doch damit ging die Debatte erst los.

Der Risikokapitalgeber Marc Andreessen, der unter anderen im Aufsichtsrat von Facebook sitzt, schrieb auf Twitter: «Anti-Kolonialismus ist schon seit Jahrzehnten wirtschaftlich katastrophal für die Menschen in Indien. Warum jetzt aufhören?» Die Aussage löste im Netz einen Sturm der Entrüstung aus.

Facebook führe sich auf wie ein Kolonialherr, von «Rassismus» und «Imperialismus» war die Rede. Andreessen löschte daraufhin den Tweet und entschuldigte sich. Facebook-Chef Mark Zuckerberg sah sich zu einer Intervention genötigt und versuchte die Wogen zu glätten. «Ich fand die Kommentare zutiefst beunruhigend, sie spiegeln nicht die Art und Weise wider, wie Facebook oder ich denken», schrieb er in einem Post auf Facebook. Gleichwohl: Der Flurschaden war nicht mehr zu bereinigen.

Ignoranz gegenüber der Geschichte

Andreessen erweckte mit seinem Statement den Eindruck, dass Kolonialismus hilfreich sein könnte bei der Entwicklung. Der Tweet war ursprünglich eine Replik an den Unternehmer Vivek Chachra, der gesagt hatte, das Argument «Etwas Internet ist besser als gar keines» klinge wie eine «Rechtfertigung für Internetkolonialismus».

Andreessens Tweet zeugt auch von einem hohen Mass an Ignoranz gegenüber der Geschichte. Inder reagieren auf das Thema sehr sensibel. Grundsätzlich stehen sie Geschenken, die im Gewand des Tauschs daherkommen, sehr skeptisch gegenüber. Die Aktivisten verstehen die Free-Basics-Initiative als illegale Landnahme.

Ein Reddit-Nutzer brachte die Besorgnis auf den Punkt: «Wir waren naiv mit der Ostindien-Kompanie. Nie wieder, Bruder, nie wieder!» Der Vergleich mit der Handelsgesellschaft aus Kolonialzeiten sagt viel darüber aus, wie die Menschen in Indien Facebook wahrnehmen. Es herrscht eine diffuse Angst vor dem Tech-Giganten aus den USA und Misstrauen gegenüber seiner Geschäftspraxis.

«Digitale Unterwerfung»

Interessant ist dabei vor allem, dass mit der Dominanz der Internetkonzerne die alte (Neo-)Kolonialismus-Debatte wieder aufbricht, die eigentlich schon in Vergessenheit geraten ist. Zusammen mit den Abhängigkeits-Theorien linker Theoretiker aus den 1960er- und 1970er-Jahren landete sie in den verstaubten Schubladen der Elfenbeintürme. Doch drängt sich die historische Analogie geradezu auf: Die Tech-Giganten greifen heute massenhaft Daten ab, so wie die Kolonialmächte früher Ressourcen ausbeuteten. Und Daten sind bekanntlich der Rohstoff der Digitalmoderne.

Die Sorge ist nicht nur in Schwellen- und Entwicklungsländern verbreitet. Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk diskutierte – wenngleich in anderem Kontext – auf dem NZZ-Podium im September 2015 in Berlin die These, ob Europa zu einer «digitalen Kolonie» der USA werde. Das Thema entfachte allerdings keinen emotionalen Furor, weil Europa gar nie eine Kolonie der USA war. Im Gegenteil: Die USA waren einst eine Kolonie Englands. Trotzdem treibt die Rhetorik der «digitalen Unterwerfung» die Öffentlichkeit weiter um.

Der Informationsphilosoph Luciano Floridi vergleicht Europa mit einer «digitalen Provinz des kalifornischen Empires». Im Gespräch sagt er: «Uns wird zwar das Recht auf volle Staatsbürgerschaft in der Informationsgesellschaft gewährt, doch die Macht, die unsere digitalen Erfahrungen verändert, liegt im Silicon Valley.» Der Philosoph geht noch einen Schritt weiter: «Wir haben nicht einmal Verbraucherrechte. Unser einziges Nutzerrecht ist es, Geschenke abzulehnen.» Der Bürger muss auf die Gutmütigkeit der Technikriesen vertrauen.

Daten statt Rohstoffe

Der US-Geograf Jerome Dobson prägte den Begriff der «Geosklaverei». Diesen definierte er in einem vielzitierten Aufsatz als «Praxis, in der eine Einheit, der Herr, durch Zwang oder heimlich, den physischen Aufenthaltsort eines anderen Individuums, des Sklaven, beobachtet und kontrolliert. Inhärent in diesem Konzept ist das Potenzial des Herrn, routiniert die Zeit zu kontrollieren, Standort, Geschwindigkeit, Richtung für jede Bewegung des Sklaven und in der Tat, vieler Sklaven gleichzeitig.»

Das trifft wohl auf alle Tracker zu. Geografie, sagte Dobson einmal, sei Identität – wenn man weiss, wo jemand ist, weiss man bald auch, wer er ist. Der Vorwurf, Facebook betreibe eine Art Kolonialismus 2.0, ist nicht von der Hand zu weisen.

So wie einst die Kolonien Rohstoffe exportierten, exportieren Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika heute gigantische Datenpakete, die in den Serverfarmen des Silicon Valley ausgewertet und monetarisiert werden. An der Wertschöpfung haben die Nutzer keinen Anteil. Im Grunde sind sie nur ein Rohstofflieferant, sie generieren die Daten. Die Endprodukte – vom materiellen Smartphone bis hin zu entmaterialisierten Suchdiensten – werden im Silicon Valley hergestellt.

Einfache Lösungen für grosse Probleme

Ein Nutzer, der in einer Suchmaschine etwas sucht, ist ein blosser Stichwortgeber – und ein Adressat für Werbung. «Google, Facebook und Co. herrschen über eine Privatisierung der Daten», sagt der Harvard-Jurist Frank Pasquale auf Anfrage. «Sie raten jedem, ‹offen› zu sein, Content online zu teilen, aber ihre eigenen Daten halten sie geheim.»

Identitäten werden zum handelbaren Gut. Dass ein solches Denken Raum greifen kann, ist das Ergebnis einer subtilen Expansionsstrategie. Die Tech-Giganten verhalten sich kolonisatorisch in dem Sinne, als sie ihre vereinfachende Weltanschauung des «Solutionism» jedem Land aufdrängen wollen. 

Grosse Probleme wie Armut, Hunger, Krebs? Lassen sich alle mit einer App lösen! Der Wissenschaftler Brett Scott schreibt in einem aktuellen Paper: «Dieses Technologie-als-Retter-Narrativ ist von Natur aus top-down.» Die Lösung kommt von oben, die unten müssen nur mitmachen. Absolventen von Elite-Unis lösen auf die Schnelle die Probleme der Leute in ärmeren Ländern, so die Vorstellung. Das könne nicht funktionieren, sagt Scott: Technologien müssten immer in den sozialen Kontext eingebettet werden.

Mag sein, dass sich das Leben des indischen Bauern Ganesh dank Free-Basics verbessert hat. Doch wäre es falsch, verringerte Armut gegen Grundrechte aufzurechnen.

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