Wer wird das nächste EU-Mitglied? Die Fortschrittsberichte der EU bewerten einmal im Jahr die Beitrittsbemühungen von sieben verschiedenen Ländern.
Die Fortschrittsberichte der EU-Kommission erscheinen einmal jährlich und sollen die Fort- und Rückschritte von sieben Staaten auf ihrem Weg in die Europäische Union bewerten. Eigentlich sollte der Bericht bereits Mitte Oktober erscheinen, doch er wurde verschoben. Die offizielle Begründung lautet, dass den Berichten aufgrund der Flüchtlingskrise nicht die angemessene Aufmerksamkeit zukommen könne.
Kritiker indes glauben, dass die EU-Kommission der türkischen AKP den Wahlkampf nicht mit einem kritischen Bericht erschweren wollte. Erst kurz nachdem die AKP eine absolute Mehrheit holen konnte, wurden die Berichte veröffentlicht. Die Türkei soll in Zukunft Flüchtlinge davon abhalten, überhaupt nach Europa zu gelangen. Die Beitrittsverhandlungen sind Teil der Aussenpolitik der Europäischen Union.
Auch in den sechs Ländern des westlichen Balkans, die auf einen EU-Beitritt hoffen, gab es spannende Entwicklungen. Da die EU mit Bosnien und Herzegowina sowie dem Kosovo ein Assoziierungs- und Stabilisierungsabkommen vereinbart hat, sitzen nun alle sechs Westbalkan-Staaten offiziell im Warteraum der EU. Das wird oftmals als Argument dafür verwendet, dass es sich um «sichere Herkunftsstaaten» handelt, aus denen Asylanträge grundsätzlich abzulehnen seien. Dabei geht aus den Fortschrittsberichten selbst hervor, dass die Situation in diesen Ländern für Roma, nationale Minderheiten und LGBT-Personen denkbar schlecht ist. Weitere Probleme, die in fast allen dieser Länder herrschen, sind Korruption, mangelnde Umsetzung der Rechtsstaatlichkeit, Demokratiedefizite sowie eine schwierige wirtschaftliche Lage. Vor 2020 wird wohl keines der Länder Mitglied der Europäischen Union werden.
Von «gut» bis «weit entfernt» – die Chancen der Staaten in der Übersicht (direkt zum gewünschten Land: Türkei, Montenegro, Serbien, Mazedonien, Albanien, Bosnien und Herzegowina und Kosovo).
Türkei
Lob erntet die Türkei von der EU einzig für ihr Engagement in der Flüchtlingskrise. (Bild: EPA/Jodi Hilton)
Das grosse Thema bei den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist die Flüchtlingskrise, welche eine «gemeinsame Herausforderung» darstellt. Der Fortschrittsbericht der EU lobt, dass die Türkei über zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak aufgenommen hat. Die Zusammenarbeit bei Sicherheitspolitik, Handel, Wirtschaft und Kampf gegen den Terrorismus soll intensiviert werden. Ansonsten fällt der Bericht vernichtend aus.
Mit Demokratie und Bürgerrechten gehe es steil bergab. Ankara nehme die notwendigen Reformen nicht mehr in Angriff. Beim Thema Rechtsstaatlichkeit steht die Türkei schlechter da als noch vor einem Jahr. Fehlende Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz werden scharf kritisiert. Konkret wird die Inhaftierung von Journalisten und die Internetzensur durch die AKP angeprangert.
Die EU-Kommission hofft auf ein Ende der bestehenden Gewalt und Wiederaufnahme der Gespräche mit den Kurden. Neben der Kurdenfrage stellt auch die Zypernfrage ein kaum zu lösendes Problem für einen zukünftigen Beitritt der Türkei zur Europäische Union dar. Auch der jetzige Wahlvorgang wird kritisiert. Eigentlich muss Recep Tayyip Erdoğan laut Verfassung überparteilich agieren. Das hat er aber ganz klar nicht getan.
Damit steht die Frage im Raum, warum dem Fortschrittsbericht eigentlich diese Bedeutung beigemessen wird. Die Türkei unter der AKP hat sich weitestgehend von Europa als Massstab verabschiedet. Auch in Europa scheint niemand ernsthaft zu glauben, dass die Türkei in naher Zukunft Mitglied der EU werden wird.
EU-Aussicht: Noch schlechter als bislang.
Montenegro
Die EU fordert von Montenegros Regierung einen gepflegteren Dialog mit der Bevölkerung. (Bild: AP Photo/Risto Bozovic)
Die EU-Kommission kritisiert, dass es bei den «politischen Kriterien» für einen Beitritt keine Fortschritte gebe. Der Fortschrittsbericht der EU geht auch auf die jüngsten Proteste gegen die Regierung ein. Die politischen Parteien werden dazu aufgefordert, in einen «konstruktiven Dialog» zu treten. Das lässt sich vonseiten der EU-Kommission leicht sagen. Es gibt wohl kein EU-Land, das so sehr in den Händen eines einzigen Mannes ist, wie Montenegro. Seit 1991 regiert der ehemalige Zigarettenschmuggler Milo Ðukanović das Land, abwechselnd als Präsident oder als Premierminister. Die Beitrittsverhandlungen dauern seit Juni 2012 an.
Daher ist es wenig verwunderlich, dass es in Montenegro auch weiterhin an der Rechtsstaatlichkeit mangelt – das wohl grösste Hindernis für einen baldigen Beitritt zur EU. Zwar nennt der Bericht ein paar Fälle, in denen Korruption und organisierte Kriminalität bekämpft worden seien. Dennoch schneidet Montenegro hier nicht gut ab. Was die Pressefreiheit angeht, liegt das Land sogar im regionalen Vergleich ganz weit hinten. Journalisten werden bedroht, die Ermordung des Chefredakteurs des Oppositionsblattes «Dan», Duško Jovanović, aus dem Jahr 2004, ist bis heute nicht aufgeklärt. Einschüchterungen und Drohungen gegen oppositionelle Journalisten sind an der Tagesordnung. Die Täter werden eigentlich nie ermittelt.
In wirtschaftlicher Hinsicht gilt Montenegro als moderat vorbereitet. Der Lebensstandard ist aber insgesamt höher als in den anderen Staaten des westlichen Balkans, was vor allem am Tourismus liegt. Aber auch hier schreckt die mangelnde Rechtsstaatlichkeit Investoren ab. Die Wettbewerbsfähigkeit ist schwach ausgeprägt und leidet an der grassierenden Korruption.
Verglichen mit den meisten anderen EU-Staaten hat Montenegro gute Karten für einen EU-Beitritt. Allerdings wurden seit 2014 kaum nennenswerte Fortschritte in den Bereichen Korruption, Kampf gegen das organisierte Verbrechen, Demokratie und Pressefreiheit erreicht.
EU-Aussicht: Gut, wenn auch nicht mehr ganz so gut wie noch voriges Jahr.
Serbien
Serbien löst sich von langsam von überholten Anschauungen. Das gefällt der EU. Doch sie erwartet noch mehr Fortschritte. (Bild: AP Photo/Darko Vojinovic)
Serbien hat wichtige Fortschritte auf dem Weg in die EU gemacht. Die Eröffnung der Verhandlungskapitel soll noch in diesem Jahr beginnen. Dem Fortschrittsbericht der EU zufolge wurden wichtige Erfolge in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Beziehungen zum Kosovo erzielt. Serbien wird für seine hohe Kooperationsbereitschaft in Fragen der Flüchtlingspolitik und regionaler Zusammenarbeit gelobt. Die aktuelle Flüchtlingskrise sei gut von Serbien gemeistert worden. Positiv hervorgehoben werden zudem die tiefgreifenden ökonomischen Reformen, die beachtliche Senkung der jährlichen Staatsverschuldung und dass in Belgrad bereits zweimal hintereinander eine Gay Pride ohne grosse Zwischenfälle stattfinden konnte. Allerdings attestiert die EU-Kommission Serbien bei der Situation von LGBT-Personen, Roma und Kriegsflüchtlingen noch Nachholbedarf.
Die EU-Kommission lobt vor allem die PR-Offensive des Premierministers Aleksandar Vučić und seine Teilnahme an der Gedenkfeier für die Opfer von Srebrenica.
Weitere Reformen erwartet sich die EU-Kommission in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Kampf gegen Korruption, organisiertes Verbrechen und Pressefreiheit. Kritisiert wird vor allem der Einfluss der Politik auf Bereiche wie Verwaltung, Geschäftswelt, Medien und andere Bereiche.
Betont wird, dass die Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo weiter gehen muss. Serbien erkennt das Kosovo bis heute nicht an und betrachtet das Land als sein Staatsgebiet. Dieser Standpunkt bleibt wohl die grösste Hürde auf dem langen Weg in die Europäische Union. Auch die guten Beziehungen zu Russland könnten Serbien auf Dauer im Weg stehen.
EU-Aussicht: Gut.
Mazedonien
Dass die Regierung Mazedoniens demokratische Grundregeln nur zum Schein einhält, enttäuscht nicht nur die Bevölkerung. (Bild: EPA/Georgi Licovski)
Von den beurteilten Ländern war Mazedonien in den vergangenen zwölf Monaten eines der spannendsten und zog grosse Aufmerksamkeit der EU-Kommission und insbesondere des EU-Erweiterungskommissars Johannes Hahn auf sich. Von der Opposition veröffentlichte Tonbänder hatten den lange gehegten Verdacht bestätigt, dass grundlegende demokratische Spielregeln für die aktuelle Regierung nur Fassade sind. Nach Massenprotesten einigten sich der Premier Nikola Gruevski und der Oppositionsführer auf Neuwahlen im April 2016. Die Regeln für faire und freie Neuwahlen hat die Regierung entgegen der Vereinbarungen bislang nicht implementiert. Die politische Krise wird im Fortschrittsbericht der EU als die grösste Krise seit 2001 bezeichnet, als ein Bürgerkrieg zwischen Mazedoniern und Albanern nur knapp verhindert werden konnte.
Die Regierung greift in alle Bereiche des Lebens ein, vor allem aber verhindert sie die Schaffung einer unabhängigen Justiz. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass wohl einige Mitglieder der Regierung sich vor einer solchen unabhängigen Justiz zu verantworten hätten. Auch die Situation bezüglich der Pressefreiheit und Lebenssituation von Roma und LGBT-Personen wird kritisiert.
Keinerlei Fortschritte gibt es im Streit mit Griechenland um den Namen Mazedonien, auch wenn betont wird, dass dieser dringend zu lösen sei. Besonders selbstkritisch ist die EU-Kommission in diesem Punkt allerdings nicht. Immerhin ist es ja Griechenland, das alle Beitrittsbemühungen Mazedoniens torpediert, weil es den Namen Mazedonien nicht anerkennen will. Laut EU-Kommission bleiben die Beziehungen zwischen den Mazedoniern und der grossen albanischen Minderheit fragil.
Ein kleiner Lichtblick ist die wirtschaftliche Situation in Mazedonien. In kaum einem anderen Land der Welt soll es so einfach sein, ein Unternehmen zu gründen. Das Investitionsklima ist gut und die Wirtschaft wächst konstant. Die Arbeitslosigkeit ist mit 28 Prozent allerdings extrem hoch.
Vor genau zehn Jahren galt Mazedonien noch als aussichtsreicher Kandidat für die EU. Seitdem hat die amtierende Regierung sich umgedreht und in die andere Richtung bewegt.
EU-Aussicht: Schlecht.
Albanien
Es sind kleine Fortschritte, die Albanien Lob einbringen. So etwa die grossflächigen Vernichtung eines der grössten Geschäftsfelder des Landes überhaupt: Cannabisanbau. (Bild: AP Photo/Hektor Pustina)
Albanien erhielt den Kandidatenstatus im Juni 2014. Positiv hebt der Fortschrittsbericht der EU hervor, dass die Lokalwahlen diesen Juni relativ frei und fair abliefen. Doch wenn selbst ein Punkt wie dieser positiv hervorgehoben werden muss, sagt das viel darüber aus, wie weit das Land noch von einem EU-Beitritt entfernt ist.
Auch in Albanien gehören Korruption, Rechstaatlichkeit und die Bekämpfung des organisierten Verbrechens zu den grossen Baustellen. Auch hier ist die Lebenssituation von Roma besonders prekär. Das Transportwesen und die Energiesicherheit müssen weiter ausgebaut werden. Ein weiterer Kritikpunkt der EU-Kommission ist, dass viele albanische Staatsbürger Asylanträge in EU-Staaten, insbesondere Deutschland, stellen. Die müsse der Staat unter Kontrolle bekommen.
Positiv hervorgehoben wird die Vernichtung von grossen Cannabisfeldern in Albanien. Wenn man die Schätzungen der italienischen Küstenwache als Grundlage nimmt, war dies das mit Abstand erfolgreichste Business im Land. Selbst in den Grossstädten der anderen Balkanstaaten hat die Vernichtung der Felder zu einer bemerkenswerten Preissteigerung von Cannabis geführt.
Die Bemühungen der Regierung und kleine Fortschritte in verschiedenen Bereichen werden ausdrücklich gelobt. Albanien ist aber noch sehr weit davon entfernt, einen Fuss in die Tür der Europäischen Union zu bekommen.
EU-Aussicht: Noch weit entfernt, jedoch mit Aussicht auf Besserung.
Bosnien und Herzegowina
Mit Bosnien und Herzegowina zeigt sich die EU optimistischer als auch schon. Trotzdem: Minderheiten wie Roma haben hier nach wie vor einen schweren Stand. (Bild: AP Photo/Amel Emric)
Im Jahr 2014 fiel er vernichtend aus, in diesem Jahr dagegen hebt der Forschungsbericht der EU lobend hervor, dass sich Bosnien und Herzegowina wieder auf dem Reformpfad befindet. Das Assoziierungs- und Stabilisierungsabkommen zwischen Bosnien-Herzegowina und der EU trat im Juni diesen Jahres in Kraft. Laut dem Fortschrittsbericht wurden wichtige Reformen implementiert.
Dennoch geht aus dem Bericht hervor, dass das stark fragmentierte politische System eine Schwierigkeit darstellt und die verschiedenen Kantone sowie die serbische Entität und die bosniakisch-kroatische Föderation weiterhin Probleme bei der Zusammenarbeit haben. Minderheiten wie Roma oder Juden können sich weiterhin nicht für bestimme politische Ämter bewerben. Ende 2013 wurde eine Volkszählung durchgeführt, deren Ergebnis bis heute nicht veröffentlicht wurde. Man kann sich nicht darauf einigen, wer als Bürger gelten soll und wer nicht.
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass mit Bosnien und Herzegowina ein Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen in Kraft getreten ist, ohne dass das Land wirklich geliefert hat. In der EU scheint man offenbar zu hoffen, dass endlich etwas geschieht, wenn man einen Schritt auf Bosnien und Herzegowina zugeht.
EU-Aussicht: Besser als auch schon, aber noch immer schlecht.
Kosovo
Wo Parlamentarier schlagkräftig oder gar mit Tränengas argumentieren, darf wohl kein explosives Wirtschaftswachstum erwartet werden. (Bild: AP Photo)
EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini und EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn unterschrieben am 27. Oktober ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit dem Kosovo. Damit sitzen nun alle Länder des westlichen Balkans im Warteraum der EU. Im Fortschrittsbericht der EU wird die Unterschrift als «Meilenstein» bezeichnet. Im Gegensatz zu den anderen Berichten steht auf der Titelseite des Fortschrittsberichts neben dem Wort Kosovo jedoch ein kleiner Stern. Dieser weist darauf hin, dass noch nicht einmal der Status der Landes geklärt ist. Nicht mal alle EU-Staaten erkennen das Kosovo an.
Die kosovarische Regierung wird für die Implementierung von unpopulären Massnahmen bezüglich der serbischen Minderheit im Land gelobt. Die serbischen Kommunen im Nordkosovo sollen demnach ein gewisses Mass an Autonomie erhalten. Als Reaktion darauf hat die Opposition die Regierung mehrfach mit Tränengas angegriffen – und zwar im Parlament.
Die politische Instabilität macht sich auch im geschrumpften Wirtschaftswachstum bemerkbar: 0,9 Prozent Wachstum in diesem Jahr sind ein tiefer Wert. Dabei haben bereits die Durchschnittswerte von 3,5 Prozent Wachstum in den vergangenen zehn Jahren das Land keineswegs aus der wirtschaftlichen Misere retten können. Das Kosovo steht noch ganz am Anfang seiner EU-Integration.
EU-Aussicht: Weit entfernt.
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Wie die Chancen verganges Jahr standen? Hier die Übersicht.