Ferien vom Syrien-Krieg im Kanton Basel-Stadt

Es scheint unvorstellbar, dass derzeit jemand freiwillig nach Aleppo zurückgeht. Doch die 71-jährige Suzan Khachigian-Apartian ist nach ihrem Familienbesuch in Riehen wieder auf der Rückreise in den Krieg.

Suzan Khachigian-Apartian (links) besuchte ihre Tochter Houry Dora Apartian und ihre Enkel in Riehen. An Weihnachten möchte sie wieder zurück in Aleppo sein.

(Bild: Boris Burkhardt)

Es scheint unvorstellbar, dass derzeit jemand freiwillig nach Aleppo zurückgeht. Doch die 71-jährige Suzan Khachigian-Apartian ist nach ihrem Familienbesuch in Riehen wieder auf der Rückreise in den Krieg.

Aleppo ist heute ein Name, der für das Grauen und die sinnlose Zerstörungswut des Krieges steht – so wie Verdun und Stalingrad. In Zeiten, in denen so viele Menschen unter Lebensgefahr aus dieser Stadt geflohen sind und in denen die Kämpfe wieder heftig zunehmen, scheint es unvorstellbar, dass jemand wieder dorthin zurückgeht. Freiwillig.

Und doch: Suzan Khachigian-Apartian ist nach neunzig Tagen in der Schweiz wieder auf der Rückreise in den Krieg.

Besuch bei Tochter und Enkeln in Riehen

Die 71-Jährige ist gebürtige Libanesin und armenische Christin. Ihrem vor 20 Jahren verstorbenen Mann folgte sie als 23-Jährige in dessen Heimatstadt Aleppo, wo sie drei Kinder grosszog. Eines davon, ihre jüngste Tochter Houry Dora Apartian, lebt seit 2010 in Riehen, wo sie einen Schweizer heiratete. Die junge Familie hat zwei Kinder.

Ende August nahm die Mutter die beschwerliche und lebensgefährliche Reise vom Norden Aleppos zur libanesischen Grenze auf sich und flog mit einem Schengenvisum von Beirut in die Schweiz, um ihre Tochter und ihre beiden Enkel zu sehen, wie sie in gutem Englisch erzählt: «Es ist das zehnte Mal, dass ich meine Tochter besuche, seit sie in Riehen lebt.» Noch nie war es wohl so schwierig.

Von Strassenkämpfen bisher verschont

Khachigian-Apartian arbeitet in Aleppo ehrenamtlich in der armenischen Kirche an einer der wichtigen Hauptstrassen. Die Kirche betreibt ein grosses Zentrum mit eigener Sozial- und Gesundheitsarbeit und Schulen, darunter auch ein Gymnasium. Sie liegt im nördlichen Stadtteil Suleymaniye, einer Gegend, in der hauptsächlich Christen leben. Suleymaniye ist als einer von wenigen Stadtteilen bisher von Strassenkämpfen verschont geblieben. Dennoch gibt es Strom nur über ölbetriebene Generatoren und unregelmässig Wasser. Die Kirche und ihre Arbeit werden von ausländischen Spendern unterstützt.

«Früher kümmerten wir uns um arme Menschen unserer christlichen Gemeinde, die Unterstützung brauchten», erzählt Khachigian-Apartian, «heute um alle Menschen, Christ oder nicht Christ.»

Es mag erstaunen, dass in einer Stadt, in der schon lange der Krieg wütet, noch immer mit Geld bezahlt wird und nicht der Tauschhandel überhandgenommen hat. Die Preise der Lebensmittel seien auf das Fünf- bis Sechsfache des Vorkriegsniveaus gestiegen, erzählt Khachigian-Apartian. Es gebe nur noch einen intakten Marktplatz in Suleymaniye. Immer weniger Menschen haben noch das Geld, um sich das Notwendige zu leisten. Die armenische Kirche gibt am Ende jeden Monats Pakete mit Medizin, Körperpflegeprodukten und haltbaren Lebensmitteln aus.

Krieg und Glaube

Der «glücklichste Teil» ihrer Arbeit in Aleppo ist für Khachigian-Apartian die Rückkehr der Menschen zum Glauben: «Sie brauchen das Wort Gottes.» Sonntags seien nun 200 Menschen in den Gottesdiensten; und ihrer Bibelstudiengruppe gehörten mittlerweile 60 Frauen an.

«So verlieren wir keine Hoffnung und werden ermutigt weiterzumachen», sagt Khachigian-Apartian: «Die Menschen sind sehr dankbar.» Gar ein kleines Wunder habe es auf dem Gelände der Kirche gegeben, als eine saubere Trinkwasserquelle im Boden entdeckt wurde. Der Schulbetrieb werde ebenfalls aufrechterhalten: Viele Lehrer arbeiteten ehrenamtlich.

«Ich bin sehr froh, dass meine Kinder mich brauchen», sagt Khachigian-Apartian, die sich natürlich auch auf ihre Enkel gefreut hat. Auch der Sohn, der mit zwei Kindern in Paris lebt, besuchte sie in Riehen. Ihre Schweizer Tochter und deren Mann erziehen ihre beiden Kinder zweisprachig – Englisch und Deutsch. «Es gibt kaum jemanden hier, der Armenisch spricht», sagt Houry Dora Apartian: «Es wäre schwierig für die Kinder, sprachlich dabeizubleiben.»

Suzan Khachigian-Apartian selbst spricht neben Armenisch auch Englisch, Französisch und Türkisch. Arabisch, die Amtssprache Syriens, beherrsche sie dagegen «nicht sehr gut».

Raketen-Treffer im Kirchenzentrum

Es ist der erste Krieg, den Khachigian-Apartian erlebt, auch wenn der libanesische Bürgerkrieg 1975 bis 1990 nie weit weg war. «Manchmal denke ich darüber nach, wo der Ort sein wird, an dem ich sterbe», erzählt sie. «Aber es gibt so viele Dinge zu tun. Wir können nicht einfach mit allem aufhören; wir können nicht die Schulen und Kirchen schliessen. Im Krieg ist man nirgends sicher.»

Dreimal sei das Kirchenzentrum von Raketen getroffen worden, zweimal das Schulgebäude, einmal das eigentliche Kirchengebäude. «Die Rakete streifte das Kirchendach. Das Loch war genau über der Orgel, wo ich immer spiele», erzählt sie. Und: Es kommen nun auch Muslime in das christliche Viertel – «leider», sagt Khachigian-Apartian. Die Menschen fliehen aus den umkämpften und stark bombardierten Stadtvierteln und nutzen die Wohnungen, die Flüchtlinge in Suleymaniye zurückgelassen haben. «Es gibt sehr nette Muslime», das betont Khachigian-Apartian. «Aber man weiss nie, wer zu welcher Fraktion gehört und wem man trauen kann.»

Zerstörung bis zur Unkenntlichkeit

Das Viertel Suleymaniye ist seit Beginn des Krieges in der Hand der Regierung. «Assad beschützt die Christen, weil sie ihm noch nie Probleme bereitet haben», so Khachigian-Apartian. «Wir lebten gut. Jeder hatte Arbeit; und unsere Kinder konnten zur Universität gehen.»

Es klingt wie eine Rechtfertigung, wenn Khachigian-Apartian das sagt. Doch das sind eitle westeuropäische Gedanken, so weit weg vom Krieg: «Als Zivilist überlegt man sich: Wer wird mich die ganze Zeit über beschützen? Wenn Assad gestürzt wird, wer wird nach ihm das Sagen in Suleymaniye haben?»

«Ich konnte mir nie vorstellen, dass Syrien ein Kriegsgebiet werden könnte», erzählt die Tochter Houry Dora Apartian. Immer wieder ist die Sängerin im Libanon, wo derzeit auch ihre ältere Schwester lebt, die mit dem heutigen Pfarrer der Kirche von Suleymaniye verheiratet ist. Ihre Heimatstadt Aleppo hat Houry Dora aber seit 2010 nicht mehr gesehen.

«Ich wäre sicher sehr geschockt, wenn ich nun die Verheerung sähe», sagt sie: «Syrien war ein sehr schönes Land.» Auch ihre Mutter bestätigt, dass man in Aleppo nicht mehr wisse, wo man sich befinde, wenn man sich durch die Stadt bewege: «Es gibt kaum noch Häuser, an denen man sich orientieren könnte.»

Lebensgefährliche Reise

Um zum Flughafen nach Beirut und damit in die Schweiz zu kommen, musste sich Khachigian-Apartian auf den erfahrenen und vertrauenswürdigen Taxifahrer Muhammad verlassen: «Mit dem eigenen Auto zu fahren ist lebensgefährlich.» Zehn Stunden dauert die Reise zur libanesischen Grenze, die gerade 150 Kilometer entfernt ist. Allein drei bis vier Stunden seien nötig, um aus Aleppo herauszukommen. Tatsächlich wurde Khachigian-Apartians Taxi schon 20 Minuten ausserhalb Aleppos von kurdischen Kämpfern angehalten.

«Sie konnten erst weiterfahren, als ein russischer Panzer kam und sie eskortierte», erzählt Houry Dora Apartian die Abenteuer ihrer Mutter.

Und nun geht es also wieder zurück. Am 22. November flog Khachigian-Apartian nach Beirut zur ältesten Tochter, wo sie eine Weile bleiben wird. Für immer in Beirut zu wohnen, wo sie sonst niemanden mehr habe, komme für sie nicht in Frage. «Vielleicht kehre ich an Weihnachten nach Aleppo zurück, wenn es keine Bomben mehr gibt», sagt sie.

Ob das nur ein frommer Wunsch bleiben wird, kann derzeit niemand sagen. Tatsache ist: Die Rebellen haben im vergangenen Monat rund zwei Drittel ihres Gebietes in Aleppo an die Truppen von Assad verloren – auch wegen der massiven Bombardements der Stadt durch die russische Luftwaffe. Das «Echo der Zeit» hat am Mittwoch einen hörenswerten Beitrag über die Lage in Aleppo gebracht – die Lage erinnere an die Dauer-Bombardements der tschetschenischen Stadt Grosny durch Russland um die Jahrtausendwende.

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