Ganga Jey Aratnam warnt vor zu viel Sozialstaat. Gleichzeitig erklärt der Soziologe im Interview, wie Basel-Stadt die grossen Unternehmen in die Pflicht nehmen sollte.
Ganga Jey Aratnam gleicht eher einem Jazzmusiker als einem Soziologen. Mit Strohhut und Blumen verziertem Hemd taucht er auf der TagesWoche-Redaktion auf. Für das Interview baut er seinen Laptop auf, zieht Blätter aus seinen mitgebrachten Mäppchen.
Seine Thesen sind erfrischend vielfältig. Der Sozialstaat sollte an manchen Stellen mehr eingreifen, aber nicht zu Abhängigkeiten führen, so Jey Aratnam. Parteipolitische Positionen liegen dem 44-Jährigen jedenfalls fern. Was zählt, ist der Blick für das grosse Ganze.
Wahrheitssuche und Wirkung
Jey Aratnams Vorbild ist Ueli Mäder. Wegen ihm sei er nach Basel gekommen, sagt der Soziologe, der in Sri Lanka aufwuchs und später in London und der Schweiz studierte. Er habe ihn an einer Konferenz in Freiburg kennengelernt und gesehen, wie Mäder die Kaffeetassen abräumt und auf Spesen verzichtet. So will Jey Aratnam auch sein: nicht bloss predigen, sondern Humanismus vorleben.
Eigentlich hat Jey Aratnam in Sozialmedizin promoviert. Das war ihm jedoch zu technisch, also wechselte er in die Humanwissenschaften. Er studierte Soziologie, Philosophie und Volkswirtschaftslehre in Freiburg. 2008 kam er nach Basel, wo er eine zweite Dissertation zur Integration von Hochqualifizierten im Schweizer Arbeitsmarkt schrieb.
Die Vermögen in Basel-Stadt sind so ungleich verteilt wie sonst kaum irgendwo auf der Welt. Warum?
Einerseits sehen wir in Basel-Stadt eine Akkumulation von Vermögen. Die Schweiz blieb von zwei Weltkriegen verschont, das Vermögen wurde hier nicht vernichtet wie in anderen Ländern. Andererseits finden in der Schweiz kaum breite Diskussionen über Vermögensungleichheit statt. Es ist verrückt: Wenn ich offen über mein Einkommen oder Vermögen spreche, reagieren die Leute, als würde ich über Sexualpraktiken sprechen.
Ist es denn schlimm, wenn die Vermögen ungleich verteilt sind?
In Basel-Stadt besitzen 0,3 Prozent der Menschen 50 Prozent der gesamten Vermögen. Das ist fast wie in Monarchien wie Dubai oder Brunei. Natürlich gibt es bei uns gute Bildungsmöglichkeiten, Chancengleichheit, einen funktionierenden Sozialstaat. Das sollte eigentlich die Ungleichheit reduzieren. Denn Ungleichheit kann laut OECD und Weltbank auch Wirtschaftswachstum und damit Wohlstand schädigen. Eine hohe Vermögensungleichheit schränkt zudem die Teilhabemöglichkeiten des Einzelnen ein, zum Beispiel an Hauseigentum. Denn die Wohnkosten leeren das Portemonnaie am meisten.
Baslerinnen und Basler spenden überdurchschnittlich viel. In Basel-Stadt gibt es weltweit die höchste Pro-Kopf-Dichte an Stiftungen. So werden die grossen Vermögen doch auch umverteilt.
Bei Stiftungen muss man genau hinschauen. Viele verfolgen soziale Zwecke, manche werden aber als Steuerschlupflöcher missbraucht. Die hohe Dichte an Stiftungen vermittelt das Gefühl, dass Basel nicht mittels eines Sozialstaats funktioniert, sondern über private Stiftungen. Diese Wahrnehmung ist jedoch schlicht falsch. Schweizweit zeichnen sich Stiftungen für weniger als drei Prozent des umverteilten Vermögens verantwortlich. Die weitaus grösste Umverteilung leistet der Staat. Ausserdem ist es so, dass sich Stiftungen gegen den demokratischen Sozialstaat richten können.
Was meinen Sie damit?
In einem Forschungsprojekt haben wir eine Stifterin interviewt. Sie sagte, sie wolle nicht, dass Leute staatlich abhängig werden, sondern, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Diese Logik ist beherrscht von der Idee, jeder könnte Bill Gates werden. Das ist offensichtlich nicht der Fall, führt aber dazu, dass manche Leute durch das soziale Netz fallen. Umverteilung zu privatisieren, birgt also Gefahren. Ein anderes Beispiel: Ein reicher Basler macht es sich zum Ziel, Swimming Pools auf Hochhausdächern zu errichten. Und viele Reiche engagieren sich beim Basler Zolli. Findet dadurch wirklich eine Umverteilung statt?
Es hilft sicherlich nicht denjenigen, die dringend Hilfe benötigen.
Genau. Es braucht eine demokratische Kanalisation dieser Gelder. Wir sollten den Superreichen nicht die Entscheidung überlassen, wie sie nach ihrem Gusto umverteilen wollen.
Aber manche Stiftungen wie die GGG oder die Christoph Merian Stiftung verfolgen durchaus gemeinnützige Ziele.
Ich habe viele Leute getroffen, die völlig uneigennützig über Stiftungen helfen wollen. Was ich jedoch gespürt habe, ist eine Haltung, die mich an den mittelalterlichen Gelehrten Thomas von Aquin und seine christliche Soziallehre erinnert. Karitativ heisst in dieser Lesart: Arme leben arm und Reiche müssen sich ihnen gegenüber barmherzig zeigen. Was dabei nicht stattfindet, ist eine echte Umverteilung. Reiche bleiben reich, Arme bleiben arm.
Wie kann der Staat denn sinnvoll umverteilen?
Bei den Vermögen ist es ganz klar die Erbschaftssteuer. Seit direkte Nachfahren in den meisten Kantonen davon befreit wurden, sind Erbschaftssteuern in der Schweiz de facto abgeschafft. Übrigens steckt in dieser Steuer eine urliberale Idee: Alle Menschen sollen gleiche Startchancen haben.
Und bei den Einkommen?
Hier spricht man von primärer und sekundärer Verteilung. Primär heisst: die Löhne, welche die Wirtschaft organisiert. Sekundär bedeutet Umverteilung durch den Staat und die Sozialversicherungen. Wenn es ums Volkseinkommen geht, dann wetteifern Kantone wie Basel-Stadt oder Zug um den ersten Platz. Aber wenn es um die Einkommensungleichheit geht, dann ist Zug Spitzenreiter. Basel steht zwar besser als der Zentralschweizer Kanton da. Aber seit 2003 sind die Basler Einkommen ungleicher als die im Kanton Zürich.
2007 wurde die Progression bei den Einkommenssteuern in Basel-Stadt praktisch abgeschafft. Mittels hohen Sozialabzügen werden untere Einkommen zwar steuerlich bevorteilt, Gutverdienende kommen in diesem Steuersystem aber sehr gut weg. Ist dieses Flaterate-Modell sozial?
Man muss sich das Gesamtbild vor Augen halten, also zum Beispiel auch: Prämienverbilligungen, Kinderzulagen, Sozialwohnungen, Tagesstrukturen. Hier steht Basel-Stadt insgesamt recht gut da. Aber es ist sicher das falsche Signal, wenn wir den Gutbetuchten sagen: Ihr könnt so viel verdienen, wie ihr wollt, und müsst prozentual immer noch gleich viel Steuern zahlen.
Auf der anderen Seite funktioniert die Sicherung des Existenzminimums mittels Sozialhilfe.
Schon, aber wir müssen aufpassen, dass wir keine staatliche Dauerabhängigkeit schaffen. Im Königreich Brunei erhält beispielsweise jeder Arbeitslose ein Auto. Das ist eine Form von Gängelung. Bei uns findet aber auch eine Etatisierung im sozialen Bereich statt.
Das müssen Sie erklären.
Ich wurde kürzlich zu einem Workshop bei der Sozialhilfe eingeladen und habe dort die Leute beobachtet. Als ein Mann am Schalter mit gebrochenem Deutsch anfing zu gestikulieren, damit er sein Anliegen erläutern konnte, rückte ihm ein Securitas-Mitarbeiter auf den Leib. Das zeigt: Wer Sozialhilfe bezieht, gilt als Potenzialtäter. Ich hatte das Gefühl, ich sei in einem Gerichtssaal, nicht in den Räumen der Sozialhilfe.
Was ist falsch daran, wenn ein Sicherheitsmann dort postiert ist?
Der Sicherheitsverantwortliche der Sozialhilfe sagte mir später in einem Gespräch, es funktioniere alles viel ruhiger und besser, seit die Securitas da ist. Natürlich, dachte ich: Das schreckt ab. Was wir dort sehen, ist jedoch eine neue Art des «Wir» und der «Anderen»; des Staates im Umgang mit Armen. Wer zur Sozialhilfe muss, wird zum gläsernen Bürger. Wenn eine Migrantin oder ein Migrant Sozialhilfe beantragt, können seine Daten an das Migrationsamt geschickt werden. Reiche werden hingegen in der Privatsphäre derart geschützt, dass man für sie im Inland das Bankgeheimnis bewahrt. Dieser doppelte Standard ist geradezu absurd.
«Wer zur Sozialhilfe muss, wird zum gläsernen Bürger. Reiche werden hingegen in der Privatsphäre derart geschützt, dass man für sie im Inland das Bankgeheimnis bewahrt.»
Was wäre denn eine bessere Lösung, als Leute zur Sozialhilfe zu schicken und zu prüfen, ob sie Geld vom Staat bekommen oder nicht?
Die primäre Verteilung sollte so weit gehen, dass die Löhne hoch genug sind, dass Menschen überhaupt nicht erst in Armut geraten. Sonst gelangen Menschen zwangsläufig von einer Abhängigkeit zur anderen: nämlich vom Markt zum Staat. Ein Problem ist auch die «Generation 50 plus». Bei diesen Personen steigt die Langzeitarbeitslosigkeit. Warum? Es ist für Firmen günstiger, einen jungen Menschen aus dem Ausland anzustellen, als einen älteren zu engagieren. Hier müsste der Staat eingreifen. Die Sozialhilfe sollte Menschen auch würdevoll in den Arbeitsmarkt zurückführen.
Das tut sie doch bereits mit Massnahmen zur Arbeitsintegration.
Aber das funktioniert nicht immer. Diese Beschäftigungsprogramme sind gesetzlich so verankert, dass sie den ersten Arbeitsmarkt nicht konkurrieren dürfen. Eine Bekannte von mir – sie hat einen Lehrabschluss und zwei Kinder – ist arbeitslos, weil sie körperlich angeschlagen ist. Jetzt muss sie in einem Beschäftigungsprogramm Kaffeerahm-Deckeli abreissen und diese ordentlich rezyklieren. Das macht sie acht Stunden am Tag. Damit kriegt sie aber garantiert keinen Job im ersten Arbeitsmarkt. Solche Programme haben häufig nur einen psychologischen Zweck: Arbeitslose beschäftigen. Für die Betroffenen kann das sehr konsternierend sein.
Statt solche Beschäftigungsprogramme zu schaffen, sollte man also stärker in den ersten Arbeitsmarkt eingreifen?
Man müsste korrektiv eingreifen, ja. Gerade auch bei Menschen, die in die Schweiz migrieren. Diese Leute kommen zu uns, und unser System sollte fähig sein, sie adäquat aufzunehmen.
Wie?
Unser System ist darauf ausgelegt: Sie bringen eine Ausbildung mit, dann finden sie einen Job und arbeiten darin, wenn sie Glück haben, bis zur Pensionierung. Stattdessen müsste man auf Digitalisierung und Wandel der Arbeitswelt reagieren und mehr Weiterbildungen anbieten und finanzieren. Wir müssen unser Integrationssystem radikal neu denken: zum Beispiel anerkannte Flüchtlinge oder auch Einheimische, die arbeitslos werden, könnte der Staat drei Jahre lang unterstützen und ihnen eine Lehre oder Weiterbildung ermöglichen.
Das wäre einfach eine neue Art von staatlicher Abhängigkeit.
Aber eben zur Unabhängigkeit. Die Wirtschaft ist nicht immer bereit, hier zu investieren. Der Lohn in einer Lehre reicht häufig nicht zum Überleben. Hier könnte der Staat einspringen, mit dem Ziel, auch erwachsenen Personen eine Perspektive zu geben. Es ist ein Fakt, dass wir eine sehr hohe Migration in die Schweiz haben. Aber es ist ein Mythos, dass die neue Zuwanderung nur Fachkräfte bringt. Zum Beispiel Portugiesen, die einen grossen Teil der Migranten in der Schweiz ausmachen, haben häufig nur einen obligatorischen Schulabschluss. Diese Gruppe ist stark gefährdet, arbeitslos zu werden. Nach fünf Jahren erhalten sie eine Niederlassungsbewilligung.
Und landen dann in der Sozialhilfe?
Ja, manchmal. Diesen Menschen müsste man gezielt Weiterbildungen anbieten, um sie zu integrieren. Reichen gewährt der Staat häufig Steuererleichterungen, für Arme gibt es das nicht. Wir haben Anreizsysteme, um Reiche anzulocken und für Firmen attraktiv zu werden. Wir brauchen auch Investitionen für untere Schichten.
Die Anreize für Unternehmen und Reiche sichern langfristig auch den Wohlstand und kommen wiederum den sozial Schwächeren zugute.
Bedingt, ja. Aber wir müssen es mit den Anreizsystemen für Unternehmer auch nicht übertreiben. Es ist nicht so, dass nur Basel die Unternehmen braucht, sondern auch umgekehrt: Die Unternehmen brauchen Basel. Das heisst: Wir müssen umdenken und weniger duckmäuserisch, sondern selbstbewusst gegenüber der Wirtschaft auftreten.
Sie meinen, wir sollten uns nicht erpressen lassen, sondern klare Bedingungen an Unternehmen stellen?
Ist Novartis wirklich bereit, ihren Campus zu verlegen?
Der Novartis Campus in Shanghai ist heute bereits grösser als derjenige in Basel. Da liegt es nahe, dass der Pharma-Riese Forschungszweige verlagern könnte.
Ein Wegzug nach Shanghai wäre ein zu grosses Risiko für Novartis. Die Rechtssicherheit ist dort nicht gegeben.
In der Schweiz bedrohen einige Initiativen die Rechtssicherheit. Novarits hat wegen der Masseneinwanderungs-Initiative unlängst ein Ausbildungsprogramm gestoppt.
Die Unsicherheiten in Shanghai sind viel grösser. Die Behörden können dort über Nacht die Steuern um 10 Prozent erhöhen. Einfach so. Ohne Diskussion. Ausserdem: Wenn ein paar kleinere oder mittlere Firmen weggehen würden – wäre das wirklich so schlimm?
Arbeitsplätze und Steuereinnahmen gingen verloren.
Wer abwandert, ist meistens nicht ortsgebunden. Das heisst, die Firma ist womöglich nur aus fiskalischen Gründen hier. Dann schafft sie auch keinen Mehrwert und Arbeitsplätze. Basel hat mehr zu bieten als tiefe Steuern. Zudem sind beispielsweise die Pharma-Unternehmen im Cluster der Region Basel so eng verflochten, dass sie nicht einfach gehen können. Die internationalen Talente, die Hochschulen, die geografische Lage, eine durchgehende Wertschöpfungskette, ein vielkulturelles Klima, die Museen- und Musiklandschaften und die weltoffene Basler Mentalität: All das ist bindend und verbindend. Deshalb bleibe ich zuversichtlich.