Frankreich setzt die «égalité» aufs Spiel

Kerzen, Blumen, Gedenkstunden und Schweigeminuten – entscheidender als der unmittelbare Ausdruck von Betroffenheit sind die längerfristigen Reaktionen, die einer bösen Tat mehr als Solidaritätsrhetorik abtrotzen.

French Education Minister Najat Vallaud-Belkacem (L), French President Francois Hollande (C) and French Prime Minister Manuel Valls stand among students as they observe a minute of silence at the Sorbonne University in Paris to pay tribute to victims of Friday's Paris attacks, France, November 16, 2015. REUTERS/Guillaume Horcajuelo/Pool TPX IMAGES OF THE DAY

(Bild: POOL)

Kerzen, Blumen, Gedenkstunden und Schweigeminuten – entscheidender als der unmittelbare Ausdruck von Betroffenheit sind die längerfristigen Reaktionen, die einer bösen Tat mehr als Solidaritätsrhetorik abtrotzen.

Terrorerfahrung, wie wir sie in unserer Nähe, das heisst in Paris, erlebt haben, kann nicht spurlos an uns vorbeigehen. Die Reaktionen erscheinen teils ziemlich gleichartig und übereinstimmend, teils aber auch sehr unterschiedlich. Übereinstimmend sind vor allem die ersten Reaktionen der persönlichen Betroffenheit und Solidarität.

Solchen Gesten stehen nicht viele Varianten zur Verfügung: Kerzen, Blumen, Peace-Zeichen, einfache verbale Botschaften (jetzt: «Je suis Paris»), Gedenkstunden und Schweigeminuten – und nochmals Kerzen. Hinzu kommen die Reaktionen der Staatsautoritäten: Halbmastfahnen und zusätzliche Patrouillen mit Maschinenpistolen, feierliche Beileidsworte, Fototermine in der Öffentlichkeit.

Entscheidender sind die mittel- und längerfristigen Reaktionen. Reaktionen auf die verbrecherische Tat, aber auch eigene Reaktionen auf die Reaktionen anderer. Im Zentrum steht die schwierige Frage, wie sehr die Freiheit eingeschränkt werden soll, damit die Freiheit besser verteidigt ist. Freiheit ist an sich unteilbar. Und doch müssen wir eingestehen, dass kollektive Sicherheitsmassnahmen Einschränkungen im individuellen Bereich zur Folge haben. Diese sind weniger problematisch, wenn sie alle in etwa gleicher Weise treffen – wie eine Gepäckkontrolle am Flughafen.

Das Gleichheitsprinzip ist infrage gestellt

Der französische Staatschef François Hollande erklärte, dass die Terroranschläge nicht einfach Frankreich gegolten hätten, sondern der Wiege der Freiheit und der Demokratie. Daran muss er sich erinnern und müssen andere ihn erinnern, wenn er jetzt die Freiheit mit Vorkehrungen verteidigen will, welche die Freiheit auf andere Weise infrage stellen können.

Wie gross diese Gefahr ist, zeigt der von Hollande allerdings abgelehnte Vorschlag der französischen Rechtsopposition, die über 11’000 Terrorverdächtigen mit elektronischen Fussfesseln zu überwachen. Bezeichnenderweise hat die Chefin des Front National zudem sogleich die Schliessung sämtlicher Grenzen für die Flüchtlinge aus Syrien gefordert. Dies, obwohl die Pariser Terroristen nicht jüngst mit den grossen Flüchtlingstrecks aus Syrien nach Europa gekommen, sondern Spätfolgen einer nicht gelungenen Integration sind.

Das Gleichheitsprinzip wird nun doch infrage gestellt durch die von Präsident Hollande vor dem Kongress verkündete Absicht, im Falle von Verurteilungen wegen Schädigung französischer Staatsinteressen den in Frankreich geborene Doppelbürgern die französische Staatszugehörigkeit abzuerkennen. Wer Terrorist ist, kann und darf kein Franzose sein. Dagegen muss angemahnt werden, dass Frankreich mit der nationalen Auslagerung des Bösen das von der französischen Nation hochgehaltene Prinzip der «égalité» verletzt.

Zu Recht erklären die Vertreter muslimischer Organisationen, dass die Anschläge auch ihnen gegolten hätten.

Beifügen kann man, dass symbolische und reale Diskriminierungen dieser Art nicht nur die direkt Betroffenen und ihr Milieu verletzen, sondern unter Umständen die Feindseligkeit geradezu begünstigen, die sie eigentlich bekämpfen wollen. Bei manchen Reaktionen sieht man, dass es sich um die Freisetzung einer latent schon vorher existierenden Bereitschaft handelt. Das dürfte auch für den von der Berner FDP-Politikerin Christine Kohli gemachten Vorschlag gelten, bis zur «restlosen Aufklärung» in allen muslimischen Quartieren in Europa eine abendliche Ausgangssperre zu verhängen.

Es wurde schon gesagt, muss aber immer wieder gesagt sein, dass die Terroristen von Paris und ihre Hintergrundorganisationen nicht beanspruchen können, im Namen des Islams ihre Schandtaten begangen zu haben. Diese sind so wenig muslimisch, wie die Ermordung von 69 jungen Norwegerinnen und Norweger durch Anders Behring Breivik im Juli 2011 auf der Insel Utøya norwegisch und christlich war.

Wie zu erwarten, wandten sich die Medien auch an Repräsentanten muslimischer Organisationen und fragten sie, wie sie sich zu diesen Verbrechen stellten. Zu Recht erklärten diese, dass die Anschläge auch ihnen gegolten hätten, weil sie nun Opfer der Verdächtigungen und Ausgrenzungen seien. Sie sähen es durchaus als ihre Aufgabe, den islamistischen Fundamentalismus in ihren Vereinshäusern und Moscheen zu bekämpfen. Sie machten aber auch – ebenfalls sehr zu Recht – darauf aufmerksam, dass man sie in dieser Aufgabe nicht alleine lassen dürfe, und dass Integration und Ermöglichung von positiven Lebensperspektiven gesamtgesellschaftliche Aufgaben seien.

Die Anschläge sind so wenig muslimisch, wie die Ermordung von 69 jungen Menschen durch Anders Behring Breivik norwegisch und christlich war.

Zu den Reaktionen gehören auch die Versuche, die Anschläge von Paris und die vorangegangene Reihe von Attentaten zu verstehen, das heisst, ihnen einen Sinn zu unterlegen. Dabei wird eine ganze Palette von Deutungen angeboten: War es Rache für die militärischen Interventionen in Syrien, wie dies propagandistische IS-Verlautbarungen suggerierten? Ging es darum, westliches Militär dazu zu verleiten, Bodentruppen nach Syrien in einen Krieg zu schicken, den sie nicht gewinnen können?

Eine oft präsentierte Interpretation lautet, dass es ein Attentat auf den Westen, auf seine Freiheit, seinen Lebensstil der Vergnügungen in Boulevard-Restaurants und «dekadenten» Konzertveranstaltungen sei, wobei der Einbezug eines Fussballspiels nicht so recht in diese Deutung passt. Es ist verständlich, aber nicht zutreffend, wenn man den Terror als speziell gegen den Westen gerichtet versteht. Gerade vorige Woche ereigneten sich fürchterliche Bombenanschläge in Beirut. Diese erreichten aber nicht unser mitfühlendes Empfinden. Im November 2008 starben bei einem Terroranschlag im indischen Mumbai 174 Menschen, ohne dass der Westen deswegen grundsätzliche Überlegungen anstellte.

Die Anschläge sind sicher kein «Kampf der Kulturen», wie ihn Samuel Huntington 1993 diagnostiziert hatte.

Während man im Falle des Anschlags auf «Charlie Hebdo» noch meinen konnte, es sei hauptsächlich um eine Reaktion auf beleidigende Mohammed-Karikaturen gegangen, fehlt bei den jüngsten Mordanschlägen jeder Direktbezug zu den Opfern, unter denen sich – theoretisch – ohne Weiteres auch sehr gläubige Muslime hätten befinden können. Eine andere Interpretation ordnet die Attentäter darum dem sinnlosen Nihilismus zu, nicht einer bestimmten Ideologie, sondern der Lebensverachtung schlechthin. Sicher ist es kein «Kampf der Kulturen», kein «Clash of Civilizations», wie ihn der amerikanische Politologe Samuel Huntington schon 1993 diagnostiziert hatte und ihn ein republikanischer Präsidentschaftsanwärter mit Bezug auf Paris erneut an die Wand malt.

Wahrscheinlich müssen wir ohne wirklich klärende Einsichten auskommen und versuchen, die Normalitäten unseres bisherigen Lebens uneingeschüchtert und möglichst unverändert weiterzuführen. Das wird nicht nur wegen der realen Bedrohungen, die durchaus bestehen können, erschwert. Denn daneben gibt es nun das Spiel mit den falschen Alarmen. Auch diesen ist man ausgesetzt und sind insbesondere die öffentlichen Verantwortungsträger ausgeliefert, weil sie es sich nicht leisten können, diese zu ignorieren.

Erfreuliche Nebenwirkungen

Sind wir tatsächlich im Krieg? Steht uns eine «guerre totale» bevor? Staatschef François Hollande glaubte dies sagen zu müssen, damit die Bürgerinnen und Bürger sehen beziehungsweise hören, dass er die Situation ernst nimmt. Auch der ehemalige US-Präsident Bush Jr. hatte 2001 nach dem «11. September» von Krieg gesprochen, um dann selber einen Krieg zu führen, der das heutige Desaster mitverursacht hat. Krieg assoziiert martialische Handlungen und evoziert Vernichtungsfantasien. Jetzt wird diskutiert, ob es genügt, bloss Lufteinsätze gegen den IS zu fliegen. Nicht weniger wichtig wäre die zivile Bekämpfung durch die Unterbindung von Geldquellen, von Lieferungen von Kriegsmaterial und zahlreichen Toyota-Trucks, die den Verbrechern offensichtlich zur Verfügung stehen.

Die Anschläge von Paris haben zu Reaktionen auch auf der Ebene der internationalen Staatskontakte geführt. Der Terror war beim Antalya-Treffen der G-20 ein Thema und könnte, was eine erfreuliche Nebenwirkung der bösen Tat wäre, die Kooperation zwischen Amerika und Russland im Nahen Osten verbessern. Und in der EU wird erstmals in ihrer Geschichte eine Solidaritätsklausel aktiviert, um Frankreich den benötigten Beistand zu geben. Die Aussenbeauftragte Federica Mogherini erklärte sinngemäss, wenn ein EU-Mitglied angegriffen werde, dann sei «ganz Europa» angegriffen. Auch da könnte die böse Tat Gutes bewirken, wenn die Solidaritätsrhetorik ein Zusammenstehen in wohlverstandenen Sicherheitsfragen anderer Art begünstigt.

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