Frankreich erkennt langsam die Grenzen seiner Sicherheitspolitik: Das Land zweifelt am stetigen Ausbau der Antiterror-Massnahmen. Terror brauche eine Betrachtung von Fall zu Fall und «ohne Vorurteil über das religiöse Gepäck».
Charlie Hebdo, Bataclan, Nizza: Frankreich ist seit 2015 von mörderischen Attentaten heimgesucht worden, die zusammen genommen fast tausend Tote und Verletzte forderten. Weniger erinnerlich ist, dass es in Frankreich auch zu mehreren kleineren Messerattacken oder Amokfahrten kam, die zum Teil wohl Nachahmertaten waren – vor Weihnachten 2014 fuhren zum Beispiel zwei Männer in Dijon und Nantes binnen zwei Tagen in eine Menschenmenge (wobei es glücklicherweise nur Verletzte gab).
Die Reaktion der Behörden ging nicht so weit wie in den USA nach 9/11 im Jahr 2001; die Linksregierung von François Hollande hat die Antiterrorgesetze aber doch massiv verschärft und eine Reihe von Einzelmassnahmen – wie etwa die Einschränkung des Waffenhandels – erlassen; vor allem hat sie den Ausnahmezustand dekretiert, welcher der Polizei massive Eingreifmöglichkeit fern jeder richterlichen Kontrolle gibt.
Der Anschlag von Nizza (84 Todesopfer) hat aber gleichzeitig eine Wende eingeleitet. Zum einen bleibt das Motiv weiterhin unklar. Der Täter bereitete die Tat offenbar mit einer Handvoll Komplizen monatelang vor. Ausser dass er Videos von Enthauptungen durch die Terrormiliz IS anschaute, wurde aber bisher kein Bezug zu allfälligen Drahtziehern in Syrien festgestellt.
Auch die neuen Gesetze verhinderten Nizza nicht
Vor allem aber verstärkt die Lastwagen-Attacke den Eindruck vieler Franzosen, dass alles unternommen wurde, damit sich die Pariser Grossanschläge nicht wiederholen – und doch liess sich nicht einmal der besonders gefährdete Nationalfeiertag schützen. Laut einer neuen Umfrage schätzen 54 Prozent der Befragten, dass der Ausnahmezustand gegen den Terrorismus unwirksam sei. Vor «Nizza» hatte noch eine klare Mehrheit den verfassungsrechtlichen Notstand gutgeheissen.
Die linke Zeitung «L’Humanité» übt scharfe Kritik: «Seit den Attentaten von Januar 2015 hält die Staatsführung dem Terrorismus den gleichen Sicherheits- und Kriegsdiskurs entgegen. Das hat das Blutbad von Nizza nicht verhindert.» Auch die konservative Editorialistin Natacha Polony findet, es brauche «keine neuen Gesetze oder erschöpfende Sicherheitsübungen wie die Militäroperation ‹Sentinelle›», sondern den Wiederaufbau einer nationalen Gemeinschaft, die kulturelle Werte teile und eine gemeinsame Geschichte anerkenne.
«Um den Terrorismus zu verstehen, müssen wir akzeptieren, von Fall zu Fall, von Individuum zu Individuum vorzugehen, ohne Vorurteil über sein religiöses Gepäck.»
Dieser Meinung sind auch die Regisseure Mélanie Laurent und Cyril Dion, Autoren eines viel beachteten Ökofilms namens «Demain» (Morgen). Um die «Spirale der Gewalt zu stoppen», sei «mehr Kultur, mehr Bildung, mehr Gerechtigkeit» nötig, und zwar vor allem in den bekannten Einwandererghettos, in denen Misere, Frustration und Rachegefühle grassierten.
Der Soziologe Michel Wieviorka glaubt allerdings, dass der «soziale Determinismus» – die Erklärung des französischen Terrorismus mit der Banlieue-Problematik – längst nicht mehr genüge. «Um den Terrorismus zu verstehen, müssen wir akzeptieren, von Fall zu Fall, von Individuum zu Individuum vorzugehen, ohne Vorurteil über sein religiöses Gepäck.» Deshalb greife man in diesem Bereich auch wieder vermehrt auf die Psychoanalyse zurück, sagt Wieviorka. Nur so könne man Typologien wie den Attentäter von Nizza erfassen – oder die französischen Syrien- und Irak-Reisenden.
Die Entprofessionalisierung des Terrors
Kritisiert wird neuerdings auch Hollandes Wortwahl, nachdem er vor einem Jahr noch viel Lob für seine besonnene Reaktion auf die Pariser Terroranschläge erhalten hatte. Von allen Seiten muss sich der Präsident vorhalten lassen, dass er nach dem Anschlag von Nizza den «Islamismus» gebrandmarkt habe, bevor die Staatsanwaltschaft Details bekanntgegeben hatte.
Das rügt auch der Jihad-Experte Raphaël Liogier, laut dem diese Täter eine Art «Jihad ohne Islam» betreiben. «Diese Individuen haben nur das narzisstische Bedürfnis zu existieren. In den 1990er-Jahren bildete Al Kaida mit Theologen noch richtige Jihadisten aus, die Arabisch und den Koran lernten. Heute findet eine Ent-Professionalisierung des Terrorismus statt. Wenn François Hollande sagt, Frankreich sei im Krieg gegen den Islamismus, verstärkt er diesen Trend nur noch.»