Mit dem Segen von Präsident Hollande eliminiert Frankreich in Syrien und dem Sahel frankophone Jihadisten, um sie nach ihrer Rückkehr an Terroranschlägen zu hindern. Zwei Jahre nach dem Charlie-Hebdo-Attentat entbrennt um dieses «gezielte Töten» von Staats wegen eine Debatte.
Ist es Notwehr, Rache – oder ein illegaler Staatsakt? Der französische Geheimdienst DGSE erstellt auf jeden Fall Namenslisten gesuchter Terroristen und lässt sie durch seine Spezialeinheit Alpha «neutralisieren», wie es im Jargon heisst. Da die Operationen unter dem Siegel des Staatsgeheimnisses laufen, gibt es keine offizielle Bestätigung.
In einem am Mittwoch erschienenen Buch beziffert der Recherchierjournalist Vincent Nouzille die Zahl dieser «targeted killings» (wörtlich: gezielten Tötungen) in Syrien und Irak seit 2013 auf «mindestens vierzig». Im Sahelgebiet, wo die französische Armee seit vier Jahren Jihadisten jagt, sollen von den siebzehn Namen einer streng geheimen «kill list» nur noch dreizehn übrig bleiben.
Dem Pariser Fernsehsender BFM sagte Nouzille, «eine gewisse Zahl von Operationen» seien weiterhin im Gang. Sie seien direkt von Präsident François Hollande angeordnet worden. Ziel sei es, frankophone Jihadisten an der Fernsteuerung oder – nach ihrer eigenen Rückkehr – an der Verübung neuer Attentate zu hindern. Dazu erhielten die Spezialagenten ausdrücklich «die Erlaubnis zu töten».
Das terrorversehrte Frankreich ist nach den USA das zweite westliche Land, das auf strukturierte Weise die Eliminierung von Staatsfeinden auf fremdem Boden praktiziert.
Das terrorversehrte Frankreich ist nach den USA das zweite westliche Land, das auf strukturierte Weise die Eliminierung von Staatsfeinden auf fremdem Boden praktiziert. Die Amerikaner haben mit ihren Dronen mehr als das Zehnfache an «Zielen» eliminiert.
Präsident Barack Obama sucht sich juristisch oder zumindest institutionell abzustützen, indem er die Namenslisten an die zuständigen Parlamentskommissionen weiterleitet. In Paris werden weder das Parlament noch die Justiz zugezogen: Der Landestradition entsprechend entscheidet der Staatschef im Elysée-Palast in völliger Alleinregie.
Es ist nur Hollandes chronischem Mitteilungsbedürfnis zu verdanken, dass die französische Öffentlichkeit überhaupt von diesen verdeckten Operationen erfährt. In einem Buch zweier «Le Monde»-Journalisten äussert sich der Präsident freimütig:
«Die Armee und die DGSE verfügen über eine Liste von Leuten, von denen man annehmen kann, dass sie für Geiselnahmen oder andere Handlungen gegen unsere Interessen verantwortlich sind. Man hat mich dazu angefragt. Ich habe gesagt: Wenn ihr sie erwischt, natürlich…»
Im August 2015 erzählte Hollande den beiden Journalisten bei ihren per Tonband aufgenommenen Kaminfeuergesprächen, man visiere gerade ein Hochhaus in der IS-Bastion Rakka, wo ein Belgo-Marokkaner (Abdelhamid Abaaoud, die Redaktion) Jihadisten ausbilde, die «in ihr Land zurückkehren und dort zuschlagen» wollten.
«Wir haben die Pflicht, auf diese Bedrohung zu reagieren», meinte Hollande ein halbes Jahr nach den Anschlägen auf die Charlie-Hebdo-Redaktion. Kurz darauf kam es in Paris zu dem Blutbad im Bataclan-Lokal und auf Bistro-Terrassen. Ihr Organisator war Abaaoud.
Das Haus wurde nicht gesprengt, Abaaoud war aber auch nicht drin.
Die französische Armee hatte aus Rücksicht auf zivile Anwohner darauf verzichtet, das Hochhaus zu bombardieren. Wie sich später zeigte, wäre Abaaoud allerdings im August gar nicht mehr in Rakka gewesen. Er wurde eine Woche nach dem Bataclan-Anschlag im Norden von Paris gestellt und erschossen.
Die Rechtsopposition in Paris kritisiert, das Hollande Staatsgeheimnisse ausplaudere, und droht mit Rechtsschritten. Da der Präsident weitgehende Amtsimmunität geniesst, versiegt diese Polemik aber ungelöst. Bedeutend mehr Wellen wirft die Frage, wie das Verhalten der französischen Staatsführung zu legitimieren ist. Oder ob sie, wie Nouzille meint, ähnlichen Rachegefühlen folge wie die USA nach den Nine-Eleven-Anschlägen von 2001.
Der Historiker Jean-Christophe Notin wies diese Sicht am Freitag zurück: «Wenn ein Jihadist in Syrien oder im Sahel ins Visier der französischen Armee gerät, geschieht das nicht aus Vergeltung, sondern wegen der Rolle, die er in seiner Organisation ausübt.»
Die Gretchenfrage ist: Darf die französische Armee Staatsangehörige umbringen?
«Le Monde» hatte am Vortag die Gretchenfrage gestellt: «Darf die französische Armee Staatsangehörige umbringen?» Was das grundsätzliche Recht zum militärischen Eingreifen in einem fremden Land betrifft, stützt sich Paris in Mali und dem Irak auf Uno-Resolutionen und nationale Hilfegesuche. Syrien hat aber die Franzosen – anders als die Russen – nie darum ersucht. Noch umstrittener sind die gezielten Tötungen.
Die ehemalige Antiterror-Staatsanwältin Juliette Le Borgne lehnt sie ab: «Unser Ziel ist es, diese Personen am Leben zu erhalten, um sie der Justiz zu überweisen. Wir wollen die Wahrheit finden, schon für die betroffenen Familien. Das ist nicht das Ziel der Armee.»
Die Regierung argumentiert mit «kollektiver Selbstverteidigung»
Hollandes Generalstabchef Benoît Puga entgegnet, die rechtliche Grundlage dieser Antiterroreinsätze sei «kollektive Selbstverteidigung», wie sie Artikel 51 der Uno-Charta erlaube. Laut Völkerrechtlern setzt diese Notwehr aber eine genau definierte und imminente Gefahr voraus.
Aus dem Elysée kommt das Gegenargument, man könne mit einem Militäreinsatz in Syrien nicht zuwarten, bis das Attentat in Paris unmittelbar bevorstehe. Das lässt die amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch nicht gelten; sie verurteilt diese Tötungen generell als «aussergerichtliche Hinrichtungen».
Solche Einwände stossen in Frankreich derzeit auf wenig Echo. Das Land befindet sich weiterhin im Ausnahmezustand und steuert zudem auf nationale Wahlen zu. Auch Hollande, der nicht mehr kandidiert, interessierte sich bei seinem Neujahrsbesuch im Irak mehr für den Frontverlauf als für völkerrechtliche Nuancen.