Es ist doch keiner ein Heiliger! Gleich mehrere Präsidentschaftsanwärter stehen unter dem Verdacht, öffentliche Gelder veruntreut zu haben. Ihre Anhänger kümmert das nicht weiter. Doch es könnte der Politik- und Elitenverdrossenheit weiter Vorschub leisten.
In Frankreich ticken politische und soziale Zeitbomben. Die sozialen Bomben bestehen einerseits aus der Misere in den Vorstädten (Banlieues) und andererseits aus den wirtschaftlich, demografisch und kulturell ausgepowerten Provinzen. Das Elend der Vorstädte explodiert von Zeit zu Zeit in Gewalt, während das Provinzelend nur bei grösserem Stellenabbau in Unternehmen und bei Protestwahlen zur Kenntnis genommen wird.
Schon bald haben die Franzosen und Französinnen Gelegenheit, mit dem Stimmzettel ihrer Malaise, aber auch ihren Heilserwartungen Ausdruck zu geben. Am 23. April findet der erste Durchlauf der Präsidentschaftswahlen statt. Die etablierten Lager der Rechten und der Linken haben bereits ihre Kandidaten gekürt (François Fillon und Benoît Hamon), und die Führerin des Front National, Marine Le Pen, stand schon lange als Kandidatin fest. Aber noch ist nicht klar, wer im ersten Wahlgang wirklich antreten wird.
Die Uhr tickt nämlich auch für eine besondere Frist: Die Kandidaten müssen bis am 17. März beim Verfassungsrat angemeldet sein, versehen mit 500 Unterstützungsunterschriften. Das dürfen nicht die Autogramme irgendwelcher Citoyens sein, sondern jene von gewählten Mandatsträgern (Parlamentarier auf Europa-, Staats-, Regions- oder Departementsebene, Bürgermeister und gewählte Vorsitzende höherer Gebietskörperschaften).
Fillon hat sich inzwischen für seinen Fehler entschuldigt; im gleichen Atemzug aber gemeint, ihn gar nicht begangen zu haben. Es habe einfach der Kultur von gestern entsprochen.
Ein Teil der Anhängerschaft ist bereit, ihm dies nicht weiter übel zu nehmen. Entscheidend sei nicht dieser punktuelle Fehler, sondern das Format als Staatschef. Besser ein fehlerhafter Politiker (un fautif), der das Land rettet, als ein sauberer, der das Land in den Abgrund führt. Weder Colbert noch Mazarin noch Napoleon, Talleyrand und Clemenceau, überhaupt die wenigsten grossen Staatsmänner, die zum Wohl des Landes gewirkt hätten, seien kleine Heilige (petits saints) gewesen.
Schauen wir uns den Fehler an: Frau Fillon, die schöne Frau mit dem schönen Namen Penelope, soll als parlamentarische Assistentin in 15 Jahren über 800’000 Euro aus Steuermitteln zugeschrieben bekommen haben, ohne dafür wirklich zu arbeiten. In einer weiteren Enthüllung wurde bekannt, dass auch zwei seiner Kinder (Marie und Charles) mit über 80’000 Euro für fiktive Beschäftigung bedient worden seien.
Man fragt sich, wie Fillon das erklären will, wenn er als Kandidat bei Fabrikbesuchen müden Arbeiterinnen gegenübersteht, die mit rund 2000 Euro im Monat auskommen müssen. Vermeintlich schlau, spielt er jetzt die Genderkarte und wirft seinen Kritikern Frauenfeindlichkeit vor: «Nur weil sie meine Ehefrau ist, soll sie nicht arbeiten dürfen?» Der Vorwurf betrifft indessen nicht das Arbeiten, sondern vielmehr das Nichtarbeiten!
Nur eine Bäuerin
Die brave Penelope schweigt zu den Irrfahrten ihres Odysseus. Früher war sie gesprächiger, und so wird genüsslich eine Aufnahme hervorgeholt, in der sie vor Mikros und Kameras erzählt, sie habe nie für ihren Mann gearbeitet und fühle sich wohler auf dem Landsitz der Familie als auf dem Pariser Parkett: «Ich bin nur eine Bäuerin.» Gemäss Fillon soll sie aber doch regelmässig seine Post geöffnet und bearbeitet haben. Und was das wert gewesen sei, könne nur er beurteilen.
Der sich leicht schuldig und doch nicht schuldig gebende Fillon beschuldigt nun die Medien massiv, weil sie das getan haben, was ihre Aufgabe ist, nämlich Öffentlichkeit herzustellen. Für ihn ist das «mediale Lynchjustiz». Die Bekanntmachung der unverfrorenen Selbstbedienungspraxis hat in der Tat Folgen: Im Moment liegen seine Umfragewerte so tief, dass er es voraussichtlich nicht in die Stichwahl vom 7. Mai schaffen wird.
Ein Rettungsversuch hat nun darin bestanden, dass er, der von 2007 bis 2012 unter Sarkozy Premierminister war, bei seinem ehemaligen Chef Unterstützung suchte. Dieser wird wegen unsauberer Geldgeschäfte ebenfalls von der Justiz bedrängt. Inzwischen übernahm Fillon Sarkozys Vorgehensweise: Er predigt härtere Repression, will bei Straftaten das Mündigkeitsalter auf 16 Jahre heruntersetzen, 16’000 zusätzliche Gefangenenplätze schaffen. Zudem sprach er sich gegen die Demonstrationen gegen polizeiliche Übergriffe aus, die von der jetzigen Regierung zugelassen wurden.
Le Pen hat als Abgeordnete des Europäischen Parlaments ihre Kabinettschefin und ihren Leibwächter als angebliche Parlamentsmitarbeiter bezahlt.
Fillons Konkurrenten können zuschauen, wie sich der angeschlagene Kandidat weiter verrennt und nicht daran denkt, seiner geliebten Partei den Gefallen eines Rücktritts angedeihen zu lassen. Obwohl frühere Anhänger nach einem neuen Kandidaten rufen, will er nicht aufgeben.
Er könnte sagen: Schwarze oder vielmehr rote und braune Schafe gibt es auch in anderen Lagern. Wir erinnern uns an den ehemaligen sozialistischen Budgetminister Jérôme Cahuzac, der im Dezember 2016 wegen Steuerbetrugs zu drei Jahren verurteilt wurde. Er, der für Steuerflucht zuständig war, hatte den Staat um 3,5 Millionen Euro geprellt. Und das Gericht hatte dies als «geradezu zerstörerisches Fehlverhalten» eingestuft.
Auch Marine Le Pen, die Führerin des Front National, steht wegen unkorrekter Geldbezüge in der Kritik. Neben «Penelopegate» gibt es demnach auch ein «Marinegate». Aber nicht wegen ihrer russischen Kredite und des vom antisemitischen Vater bezogenen Darlehens. Als Abgeordnete des Europäischen Parlaments hat sie ihre Kabinettschefin und ihren Leibwächter als angebliche Parlamentsmitarbeiter bezahlt und so gegen 340’000 Euro unrechtmässig bezogen. Die französische Justiz ermittelt seit Dezember deswegen gegen sie, und auch das EU-Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) ist aktiv geworden.
Le Pen rechtfertigt sich mit dem Argument, sich nicht – wie Fillon – persönlich bereichert, sondern nur im Interesse des «Volkswohls» gehandelt zu haben. Weil sie die Frist zur Rückzahlung verstreichen liess, kürzt das Europaparlament jetzt ihre Bezüge.
Die Machenschaften der Kandidaten alimentieren das latente Gefühl, dass Politik ein Drecksgeschäft ist.
Die Liste lässt sich verlängern. Ein weiterer Präsidentschaftsanwärter, dem Aussichten nachgesagt werden, der junge Shootingstar Emmanuel Macron mit seiner Bewegung «En Marche» (Vorwärts), sieht sich ebenfalls der Kritik des missbräuchlichen Umgangs mit Staatsgeldern ausgesetzt, weil er als Wirtschaftsminister in vergleichsweise kurzer Zeit den grössten Teil seiner staatlichen Repräsentationsgelder ausgegeben und womöglich zur Vorbereitung seines Wahlkampfes eingesetzt hat.
Lautet die Alternative gemäss zitiertem Diktum denn bloss: fähig, aber unanständig oder anständig, aber unfähig? Man wünscht sich doch für Frankreich die Kombination fähig und sogar anständig. Im bürgerlichen und im linken Lager ist man über krumme Touren von Parteiexponenten zu recht irritiert. Da sind die Konsequenzen besonders «zerstörerisch», um ein Wort des zitierten Gerichts nochmals aufzunehmen. Solche Machenschaften alimentieren nämlich das latente Gefühl, dass Politik ein Drecksgeschäft ist. Dies ist eine weitere Zeitbombe.
Politikverdrossenheit spielt bekanntlich populistischen Agitatoren in die Hände. Der Rechtspopulismus kultiviert das ideologische Konstrukt des Gegensatzes zwischen reiner Volksbasis und korrupter Elite. Dabei stört es die Anhängerschaft dieser Populisten wenig, wenn sich zeigt, dass auch ihre Elite Dinge dreht, die sie anderen vorwerfen. Le Pens Fangemeinde wird sich kaum von ihrer Jeanne d’Arc abwenden, sondern deren Verhalten als cleveren Schachzug feiern, mit dem sie es nur den anderen gleichtut.