Freispruch für Šešelj: «Nationalistische Propaganda ist nicht kriminell»

Der serbische Chefpropagandist der Jugoslawienkriege ist nun ein freier Mann. Vojislav Šešelj bereitet sich darauf vor, am 24. April wieder ins serbische Parlament einzuziehen, und verlangt 14 Millionen Euro Schmerzensgeld vom Kriegsverbrechertribunal.

Vojislav Seselj (Mitte) in Belgrad, Serbien, am 31. März 2016.

(Bild: KOCA SULEJMANOVIC)

Der serbische Chefpropagandist der Jugoslawienkriege ist nun ein freier Mann. Vojislav Šešelj bereitet sich darauf vor, am 24. April wieder ins serbische Parlament einzuziehen, und verlangt 14 Millionen Euro Schmerzensgeld vom Kriegsverbrechertribunal.

Der langjährige Mammutprozess gegen Vojislav Šešelj endete am Donnerstag mit einem Freispruch in allen neun Anklagepunkten. Der grossserbische Propagandist ist nun offiziell ein freier Mann. Ihm wurde vorgeworfen, Anführer mehrerer paramilitärischer Einheiten gewesen zu sein, welche in den jugoslawischen Bürgerkriegen Massaker, Folter und systematische Vergewaltigungen an der nicht serbischen Zivilbevölkerung begingen.

In Kroatien und Bosnien wurden diese Einheiten umgangssprachlich als  «Šešeljianer» bezeichnet. Vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wurde ihm konkret vorgeworfen, an einer kriminellen Vereinigung beteiligt gewesen zu sein. Ziel dieser Vereinigung waren laut Anklageschrift Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sein Name wurde auch in Verbindung mit Internierungslagern in Vukovar, Bosanski Šamac und Zvornik genannt. Insbesondere soll er den Hass mit seinen ausschweifenden Propagandareden beflügelt haben. Die Anklage sieht Vojislav Šešelj als einen der schlimmsten Kriegsverbrecher der Jugoslawienkriege an und forderte daher ein Urteil von 28 Jahren Haft.

Der Richter Jean-Claude Antonetti erklärte in seinem Urteilspruch jedoch: «Nationalistische Propaganda ist nicht kriminell». Ausserdem habe die Anklage Begriffe wie Verbrechen und Gewalt nicht korrekt angewandt. Eine direkte Verbindung zwischen Šešeljs Hassreden und konkreten Kriegsverbrechen könne daher nicht gezogen werden.

Laut Urteilsspruch sei das Projekt der Schaffung Grossserbiens eine politische Agenda und keine kriminelle, für die man den Angeklagten verurteilen könne. Zwar sieht es das Gericht als erwiesen an, dass der Angeklagte Freiwillige für den Krieg anwarb. Es ist aber nicht davon überzeugt, dass Šešelj von den Kriegsverbrechen wusste oder diese in Auftrag gegeben hat.

Keine Überraschung

Die ersten Kommentatoren schrieben bereits, der Freispruch sei eine Überraschung. Die Anklage hätte allerdings nachweisen müssen, dass es Befehlsketten gab, die von Vojislav Šešelj ausgingen und direkt dazu führten, dass Kriegsverbrechen begangen wurden. Diese Beweise blieb die Anklage schuldig. Dass er nicht für seine Anstachelung zu Kriegsverbrechen verurteilt wird, mag ein Skandal sein. Eine Überraschung ist es nicht. Die Anklageschrift der Schweizer Chefanklägerin Carla del Ponte stand von Anfang an in der Kritik, weil sich dort gröbste Fehler fanden, die es für Šešelj zu einem Kinderspiel machten, das Gericht vorzuführen.

Bereits im November 2014 durfte Vojislav Šešelj nach Belgrad zurückkehren, um seine Krebserkrankung behandeln zu lassen und blieb einfach dort. Inzwischen ist er wieder gesund und in der serbischen Politik aktiv. Nach der Verkündung des Urteils gegen seinen Freund Radovan Karadžić vergangene Woche, sprach er bei einer Demonstration gegen das Urteil und bezeichnete den Internationalen Strafgerichtshof als «Lügengericht». Rechtsextreme Anhänger jubelten ihm zu.

Das Urteil gegen Šešelj ist das erste des Internationalen Strafgerichtshofs, das in Abwesenheit eines Angeklagten verlesen wird. Der Vorsitzende der SRS stellte sich dem Gericht 2003 freiwillig, obwohl er dessen Legitimität nie anerkannt hat. Seiner Auffassung nach ist der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ein «politisches Tribunal», dessen Zweck es ist, den Serben die Schuld an den Nachfolgekriegen zu geben und die Interessen der USA und der EU zu vertreten.

Vojislav Šešelj tat nach der heutigen Urteilsverkündung das, was er am besten kann. Er pöbelte. Zunächst lobte er die Richter in seinem Verfahren: «Nach so vielen Verfahren gegen unschuldige Serben, haben zwei ehrenhafte Richter gezeigt, dass Ehre wichtiger sein kann als eine politische Agenda». Besonders geschmeichelt dürften die Richter sich dadurch nicht fühlen. Darüber hinaus betonte er: «Die Idee Grossserbiens ist unsterblich» und fordert eine Entschädigung in Höhe von 14 Millionen Euro dafür, dass er von 2003 bis 2014 in Untersuchungshaft sass.

«Er soll ruhig kommen, wir nehmen ihn dann fest»

In den Nachbarstaaten reagierte die Öffentlichkeit empört auf das Urteil. Die Onlineausgabe der kroatischen Tageszeitung Jutarnji List forderte nach der Urteilsverkündung, «das Gericht muss man sofort schliessen» und das Geld stattdessen für die Exhumierung der Massengräber verwenden. Šešelj spielte nach der Urteilsverkündung darauf an, dass er bald eine Dienstreise nach Kroatien unternehmen könnte und erklärte auf Twitter in Richtung der kroatischen Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović: «Kolinda, meine Kolinda, bereite dich auf meinen Besuch vor». Der kroatische Premierminister Tihomir Orešković sagte in einem Gespräch mit Journalisten in Vukovar: «Er soll ruhig kommen, wir nehmen ihn dann fest.»

Der bosnische Jurist Senad Pećanin nannte das Urteil «skandalös» und erklärte gegenüber Balkan Insight: «Das Gericht stellt damit einige erwiesene Fakten über den Bosnienkrieg infrage. Darunter auch ob es systematische Angriffe gegen Bosniaken in Zvornik gab und ob diese Menschen vertrieben wurden». Auch kosovarische Medien äusserten Unverständnis über den Freispruch.

Šešeljs Aufstieg

Šešeljs Aufstieg zum Sprachrohr Grossserbiens begann in den 1980er-Jahren. Er wandte sich von den herrschenden Kommunisten ab und den Nationalisten zu, wurde mehrmals zu Haftstrafen verurteilt und protestierte mit Hungerstreiks gegen seine Inhaftierungen. Da er im ehemaligen Jugoslawien der 1980er-Jahre als Dissident galt, wurde er damals von vielen Serben unterstützt, die zum Teil später zu seinen politischen Gegnern wurden.

1991 gründete Šešelj die Serbische Radikale Partei (SRS), die grossen Anteil daran hatte, ultranationalistische und rechtsextreme Positionen in Serbien salonfähig zu machen. Die Partei koalierte in den 1990er-Jahren auch mit Slobodan Milošević. Šešeljs Aufgabe in der Regierungskoalition war es, radikale Positionen zu artikulieren, die Milošević in dieser Form nicht aussprechen konnte, um sich auf internationalem Parkett nicht vollends zu diskreditieren.

Problem für die serbische Politik

Die heute mächtigste Partei Serbiens, die Forschrittspartei, ist eine Abspaltung von Šešeljs SRS. Sowohl der serbische Präsident Tomislav Nikolić als auch der Premierminister Aleksandar Vučić sind politische Ziehsöhne des Ultranationalisten Vojislav Šešelj. Allerdings haben sie sich inhaltlich von der Partei entfernt, fahren einen proeuropäischen Kurs und haben die grossserbische Rhetorik ad acta gelegt. Šešelj wird nun zu einem politischen Problem für seine ehemaligen Ziehsöhne.

Es gibt in Serbien mehrere ultranationalistische und rechtsextreme Parteien, von denen derzeit keine im Parlament sitzt, weil alle an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Der Freispruch beschert Vojislav Šešelj nun eine enormes Mobilisierungspotenzial für die Parlamentswahlen am 24. April. Die SRS würde laut aktuellen Umfragen als drittstärkste Kraft ins serbische Parlament einziehen und ihre grossserbische Propaganda gleich mitnehmen.

Der serbische Präsident Tomislav Nikolić und der Premierminister Aleksandar Vučić können schlecht Wahlkampf gegen Vojislav Šešelj betreiben, weil das auch ein negatives Licht auf ihre Vergangenheit werfen würde. Es gilt allerdings als unwahrscheinlich, dass sich die Partei in einer Regierungskoalition wiederfindet. Zu tief sind die Gräben zwischen dem Ultranationalisten und seinen politischen Ziehsöhnen.

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