Fünf offene Fragen in der Flüchtlingskrise

Das Thema Flüchtlinge wurde im Wahlkampf weitgehend ausgeklammert. Dabei sind die Probleme noch lange nicht gelöst. Fünf offene Fragen.

Die EU errichtet Aufnahmezentren, sogenannte «Hot-Spots» an den Aussengrenzen. Löst das die anhaltende Flüchtlingskrise?

(Bild: ANTONIO BRONIC)

Das Thema Flüchtlinge wurde im Wahlkampf weitgehend ausgeklammert. Dabei sind die Probleme noch lange nicht gelöst. Fünf offene Fragen.

Anfang September geriet die Medienwelt aus den Fugen: Ein dreijähriges Flüchtlingskind starb bei der Überfahrt in Richtung Europa. Das Bild aus dem türkischen Städtchen Bodrum ging um die Welt.

Sechs Wochen später berichten Medien nicht mehr im Tagesrhythmus über die Flüchtlingskrise. Zumindest in der Schweiz ist das Thema abgeklungen, im Wahlkampf halten sich alle Parteien ausser der SVP damit zurück. Dabei ist die Krise noch lange nicht bewältigt. Es gibt weiterhin einige offene Fragen, die Europa und die Schweiz klären müssen.

1. Wie lässt sich verhindern, dass Menschen auf der Flucht sterben?

Das zentrale Problem liegt darin, dass die Einreise nach Europa für Menschen von ausserhalb der EU illegal ist. Nur deshalb zwängen sich Flüchtlinge in überfüllte Boote und reisen mit kriminellen Schlepperbanden über gefährliche Routen nach Europa. 

Mit dem Geld, das schutzbedürftige Menschen auf diese Weise für ihre Flucht ausgeben, könnten die meisten auch ein Erstklass-Ticket für einen Flug, beispielsweise von Kairo nach Zürich, bezahlen. Nur: Das geht nicht, weil sie kein Visum für ein europäisches Land erhalten.

Der effektivste Weg, Tote zu verhindern, ist deshalb, Flüchtlingen eine legale Einreise nach Europa zu ermöglichen. Kontingente für Flüchtlinge sind ein Weg, Menschen aus Kriegsgebieten auf legalem Weg in die Schweiz oder nach Europa zu holen.

2. Wie viele Kontingentsflüchtlinge kann die Schweiz aufnehmen?

Die Schweiz beteiligt sich an der Aufnahme von Kontingentsflüchtlingen, die via Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) ins Land kommen. Das UNHCR wählt die Schutzbedürftigen nach bestimmten Kriterien vor Ort aus. Darunter fallen Familien mit kleinen Kindern, Alleinerziehende, alleinstehende Frauen, Kranke oder Angehörige religiöser Minderheiten, wie UNHCR-Sprecher Stefan Telöken gegenüber der «Süddeutschen Zeitung» sagt.

Die Auserwählten dieses Resettlement-Programms werden anschliessend von den Schweizer Behörden überprüft und dürfen dann mit dem Flugzeug oder über andere legale Wege einreisen.

Seit März kamen auf diesem Weg ganze 68 Personen aus Syrien in die Schweiz. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) rechnet mit 300 Kontingentsflüchtlingen, die bis Ende des Jahres so einreisen sollen. Der Bundesrat gab im März bekannt, dass innerhalb von drei Jahren 3000 syrische Kontingentsflüchtlinge in die Schweiz reisen sollen.

Im September korrigierte der Bundesrat die Zahl der Kontingentsflüchtlinge auf 1500 herunter. Dies deshalb, weil der Bundesrat im September 1500 Flüchtlinge aus einem Relocation-Programm der EU anrechnete.

Stefan Frey von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) sieht darin einen Taschenspielertrick. Man zähle hier einige dazu, rechne dort einige ab und vertusche dabei, dass man «gemessen an den Möglichkeiten eigentlich sehr wenig für Flüchtlinge tut».

Bundesrats-Medienkonferenz vom 18. September 2015: 

 

3. Sind Aufnahmezentren an der EU-Aussengrenze Teil einer Lösung der Flüchtlingskrise?

Die EU-Justiz- und Innenminister haben vergangene Woche beschlossen, an den EU-Aussengrenzen Aufnahmezentren für Flüchtlinge aufzubauen. Das heisst: Flüchtlinge sollen in Zukunft in diesen «Hot-Spots» einen Asylantrag stellen und anschliessend per Verteilschlüssel auf die Mitgliedsländer der EU verteilt werden.

Von den Flüchtlingen, die in den Erstaufnahmeländern Italien, Griechenland und Ungarn angekommen sind, will die EU 40’000 auf die Mitgliedsländer verteilen. Die Schweiz beteiligt sich an dieser ersten Umverteilung. Bis zu 1500 anerkannte Flüchtlinge sollen innerhalb dieses Relocation-Programms in die Schweiz kommen.

In einem zweiten Schritt sollen weitere 120’000 Menschen verteilt werden. Ob sich die Schweiz auch daran beteiligt, bleibt offen. Falls ja, würden etwa 4500 Flüchtlinge aus Italien, Griechenland und Ungarn in die Schweiz einreisen.

Die EU strebt einen fixen Verteilschlüssel an, nach dem die Flüchtlinge aus den Hot-Spots an die beteiligten Länder verteilt werden. So weit ist es allerdings noch nicht. Fraglich ist, ob die Schweiz bei einem fixen Verteilschlüssel mitmachen würde.

Die Aufnahmezentren lösen die Flüchtlingskrise nicht. Sie bieten für die EU auf lange Sicht eine Möglichkeit, mit der hohen Zahl an Flüchtlingen umzugehen. Kritiker sehen darin hingegen die Absicht der Regierungen, den Flüchtlingsstrom von ihren Ländern fernzuhalten. Diejenigen Länder, die wie Deutschland derzeit verhältnismässig viele Flüchtlinge aufnehmen, würden damit entlastet. Die Zahl der Flüchtlinge in der Schweiz würde sich durch einen fixen Verteilschlüssel vermutlich wenig verändern.

4. Soll die Schweiz das Botschaftsasyl wieder einführen?

2013 stimmte die Schweizer Bevölkerung für ein revidiertes Asylgesetz und damit für die Abschaffung des Botschaftsasyls. Das Botschaftsasyl erlaubte es schutzsuchenden Menschen, in einer Schweizer Vertretung ein Asylgesuch einzureichen. Sofern dieses aussichtsreich war, erhielten die Personen dann ein Visum zur Einreise in die Schweiz.

Die Schweiz war das letzte europäische Land, welches das Botschaftsasyl kannte. Damit würde man als Zielland für Flüchtlinge zunehmend attraktiv, sagten Kritiker. Auch im September war dieses Argument zu hören, als der Nationalrat über die Wiedereinführung des Botschaftsasyls debattierte. Schliesslich wurde es im Rat mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.

Für Stefan Frey von der SFH ist das Botschaftsasyl eines der besten Mittel, wie Menschenleben gerettet werden können. Doch zumindest vorläufig ist das Thema in der Schweiz vom Tisch.

5. Gegen Schlepper vorgehen – aber wie?

Für manche sind sie Kriminelle, für andere Fluchthelfer. So unterschiedlich über Schlepper geredet wird, so unterschiedlich sind ihre Motive. Handfeste Fakten zu den Hintergründen von Schleppern gibt es wenig.

Recherchen, wie die des «Zeit Magazins», zeigen, wie kriminelle Organisationen aus Menschen auf der Flucht Profit schlagen. Auch ein Beitrag des Schweizer Fernsehens zeigt, wie dreist Schlepper vorgehen.

«10-vor-10»-Beitrag: Erschütterndes Video vom Schlepperboot, 17.9.2015:

 

Die EU setzt derzeit auf militärische Präsenz im Mittelmeer, wo gezielt Jagd auf Schlepper gemacht werden soll. Das Risiko ist hoch, dass dabei Flüchtlinge verletzt werden.

Dabei wäre das effektivste Mittel gegen Schlepper vorzugehen, legale Fluchtwege zu schaffen. Denn: Die kriminellen Organisationen können nur deshalb Geschäfte machen, weil die Flüchtlinge in die Illegalität getrieben werden.

Beitrag des ARD-Magazins «Panorama»: Wie Frontex die Wahrheit verdreht, 19.2.2015:

 

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Welche Mittel sehen die Basler Nationalräte, der Flüchtlingskrise beizukommen? In unserer Video-Umfrage geben sie Antworten: 

 

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