Für die Disziplinierung seiner Bürger reicht China bald eine App

China hat ein «soziales Kreditsystem» eingeführt, das die Bürger anhand ihrer Einkäufe und Social-Media-Aktivitäten bewertet. Wer genügend Punkte sammelt, darf ins Ausland reisen. Kommt solch ein System auch für den Westen infrage?

Models in costumes use their smartphones as they take a break at the Global Mobile Internet Conference in Beijing, Wednesday, April 29, 2015. Beijing's municipal government declared Wednesday as "Capital Internet Safety Day" as part of an effort to educate Chinese Internet users on avoiding fraud and identity theft online. (AP Photo/Mark Schiefelbein)

(Bild: MARK SCHIEFELBEIN)

China hat ein «soziales Kreditsystem» eingeführt, das die Bürger anhand ihrer Einkäufe und Social-Media-Aktivitäten bewertet. Wer genügend Punkte sammelt, darf ins Ausland reisen. Kommt solch ein System auch für den Westen infrage?

Es klingt nach einer kruden Mischung aus «1984» von George Orwell und Dave Eggers «Der Circle»: Die chinesische Staatsführung hat vor Kurzem ein System eingeführt, das jeden Bürger sozial bewertet.

Das funktioniert so: Jeder Bürger erhält einen Score von 350 bis 950. Dieser Wert berechnet sich nach der Kreditwürdigkeit, der politischen Meinung und Social-Media-Aktivitäten. Das Social Credit System (SCS), wie das Reputationssystem offiziell heisst, verknüpft dazu Daten von Banken, E-Commerce-Seiten und sozialen Netzwerken wie Weibo.

Wohin man geht, was man kauft, wie viele Strafpunkte man auf dem Führerschein hat – all das wird erfasst und an die Identifikationsnummer gekoppelt. Verwaltet wird das System vom Versandriesen Alibaba (zum Porträt über den Gründer Jack Ma) und dem Online-Konzern Tencent, die alle sozialen Netzwerke in China betreiben und deshalb Zugang zu gigantischen Datenmengen und Sozialkontakten haben.

Wer konsumiert und linientreu ist, bekommt Freiheiten.

Die Bürger können eine App namens Sesame Credit im Alibaba-Netzwerk herunterladen, auf welcher der Score wie bei einer Fitness-App angezeigt wird. Mit dem Kauf bestimmter Produkte oder dem Posten konformer Kommentare steigt der Score. Wer dagegen regimekritische Äusserungen postet oder bei der Alibaba-Konkurrenz kauft, dessen Score fällt.

Auch das Fehlverhalten von Freunden in sozialen Netzwerken wirkt sich negativ auf den Score aus. Es mutet ein wenig wie das vom Google-Stipendiaten Douglas Coupland vorgeschlagene System der Freiheitspunkte an, nur gemünzt auf Teilhabe in einem autoritären Regime.

Bald jeder Bürger erfasst

Je mehr Punkte man sammelt, desto mehr Möglichkeiten hat man. Mit 650 Punkten, so berichtet ein Autor auf dem Internetportal privateinternetaccess.com, könne man einen Mietwagen ohne Kaution mieten. Mit 700 Punkten bekommt man im Schnellverfahren ein Visum nach Singapur. Und mit 750 Punkten ergattert man eine Einreiseerlaubnis in den Schengen-Raum. Wer konsumiert und linientreu ist, bekommt Freiheiten.

Noch ist der Citizen Score freiwillig. Bis 2020 allerdings soll er Pflicht für alle chinesischen Staatsbürger sein. Und bis dahin wird er weiter verschärft.

Die Regierung hat eine Website gestartet, auf der man den Score anderer Bürger überprüfen kann. Wie viele Punkte hat der Nachbar?

Das Reputationssystem macht deutlich, was passiert, wenn Big-Data-Technologien auf autoritäre Staatsformen treffen. Indem der Staat Punkte für gefälliges Verhalten gibt, definiert er nicht nur, was sozial erwünscht ist, sondern auch, wer ein guter und wer ein schlechter Bürger ist.

Sesame Credit hat zum Ziel, den Charakter jedes Einzelnen zu quantifizieren. Das Kontrollregime, das die Regierung ins Werk setzt, ist subtiler Natur: Man braucht nicht mehr den Knüppel, um die Bürger zu disziplinieren. Es genügen Abzüge beim Score. Psychopolitik nennt das der Berliner Philosoph Byung Chul-Han. Die Regierung hat eine Website gestartet, auf der man den Score anderer Bürger überprüfen kann. Wie viele Punkte hat der Nachbar?

Was Neues für den Westen?

Angesichts dieser Disziplinierungsmaschine stellt sich die Frage, ob ein solches System auch in westlichen Demokratien institutionalisiert werden könnte. Mit Google und Facebook stünden zwei mächtige Akteure bereit, die über detaillierte Nutzerprofile verfügen. Dass es einen militärisch-industriellen Komplex gibt, bei dem massenhaft Daten ausgetauscht werden, haben die Enthüllungen von Edward Snowden gezeigt.

Jay Stanley, Senior Policy Analyst bei der US-Bürgerrechtsorganisation ACLU, schreibt:

«Die USA sind (natürlich) ein ganz anderer Ort als China, und die Chancen, dass unsere Regierung in naher Zukunft ein solches Programm lancieren wird, gehen gegen null. Doch gibt es konsistente Anziehungskräfte hin zu diesem Verhalten aufseiten vieler öffentlicher und privater Verwaltungen, und es besteht eine sehr reelle Gefahr, dass viele der Dynamiken, die wir im chinesischen System sehen, auch hier auftreten werden.»

Die amerikanische Transportsicherheitsbehörde nutzt bereits ein System namens Secure Flight Program, das Flugzeugpassagiere anhand nicht weiter definierter Kriterien als High Risk oder Low Risk einstuft. 2012 führte die Behörde das sogenannte Precheck-Verfahren ein, das es Fluggästen gegen Zahlung von 100 US-Dollar erlaubt, die verschärften Sicherheitskontrollen an Flughäfen zu umgehen. Wer zahlt, muss am Flughafen nicht die Hosen herunterlassen.

«Solche Systeme können Einfluss darauf haben, wie sich Menschen verhalten und was sie sagen – und vielleicht sogar, was sie denken.»
Nicholas Carr, Internetkritiker 

Der Internetkritiker Nicholas Carr, Autor des Buchs «The Glass Cage», sagt im Gespräch: «Die gleiche Technologie kann auf verschiedene Weise auf lokale Kulturen und politische Arrangements angewandt werden. Was das chinesische Social Credit System zeigt, ist, dass die umfassende Verhaltensüberwachung, die unsere gegenwärtige Gesellschaft kennzeichnet, für autoritäre oder gar totalitäre Zwecke von Diktaturen genutzt werden kann.»

Es sei etwas weit hergeholt, dass ein ähnliches System von einer westlichen Demokratie etabliert werden könne. Das bedeute jedoch nicht, dass kein Grund zur Besorgnis bestehe. «Hier in den USA sehen wir schon kommerzielle Kreditgeber, die das Online-Verhalten wie etwa Social-Media-Posts berücksichtigen, um die Kreditwürdigkeit zu bestimmen. Selbst wenn der Social Credit Score nicht von der Regierung verwendet wird, kann er sehr wohl von Unternehmen genutzt werden.»

Solche Scoring-Systeme können laut Carr «einen Einfluss darauf haben, wie sich Menschen verhalten und was sie sagen – und vielleicht sogar, was sie denken».

Eine weitere Einschränkung

Man kann freilich argumentieren – und einige Internetkritiker wie Evgeny Morozov oder Jaron Lanier tun das längst –, dass der Big-Data-Technologie selbst ein totalitärer Anspruch innewohnt, weil es letztlich darum geht, unser aller Daten und damit unsere Identität zu kontrollieren. Der Soziologe Harald Welzer sagt, der neue Totalitarismus brauche keine Uniformen, wenn Uniformität informationell hergestellt ist.

Noch ist nicht ganz klar, ob es sich bei dem Credit Score in China um eine Art Betreibungregister, also eine Auskunftei handelt, die sich auf Angaben zur Kreditwürdigkeit beschränkt, oder ob es wirklich darum geht, den Menschen vollständig zu vermessen. In jedem Fall wird die ohnehin geringe Freiheit weiter eingeschränkt – und die Dystopie von Orwell ein Stück realer.

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