Garant für ein besseres Europa

Ziel des Europarats ist ein engerer Zusammenschluss seiner Mitglieder. Einigen ist das ein Dorn im Auge.

Der Schweizer Mark Villiger (l.) vertrat in Strassburg Liechtenstein.

Im 20. Jahrhundert entflammten zwischen den europäischen Grossmächten zweimal Kriege, die zu verheerenden Weltkriegen wurden. Das Ausmass an Leid und Zerstörung, das sie bewirkten, liess bei vielen Zeitgenossen die Einsicht reifen, dass die europäischen Staaten gemeinsame Institutionen schaffen mussten, um künftig Kriege zu verhindern.

Eine dieser Institutionen ist der Europarat. Dessen Grundstein legten am 5. Mai 1949 in London zehn Länder, nämlich Belgien, Dänemark, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Schweden und Grossbritannien. Noch im Gründungsjahr traten die Türkei und Griechenland bei, ein Jahr später Deutschland und Island.

Die Schweiz wartete mit ihrem Beitritt bis 1963. Nach 1989 schlossen sich osteuropäische und aus der Sowjetunion hervorgegangene Staaten dem Rat an, so 1996 auch Russland. Heute gehören dem Europarat 47 Staaten an.

Zahlreiche Abkommen

Gemäss seiner Satzung hat der Europarat «die Aufgabe, einen engeren Zusammenschluss unter seinen Mitgliedern zu verwirklichen». Die Gremien, in denen an diesem Ziel gearbeitet wird oder gearbeitet werden sollte, sind das Ministerkomitee und die Parlamentarische Versammlung. Im Ministerkomitee ist jeder Mitgliedstaat durch seinen amtierenden Aussenminister vertreten. In der Parlamentarischen Versammlung, dem Parlament des Europarats, sitzen Delegierte, die von den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten entsandt werden.

Im Laufe der Zeit hat der Europarat zahlreiche Abkommen ausgearbeitet. Dazu gehören beispielsweise die Europäische Sozialcharta (1961), die Datenschutzkonvention (1981) oder das Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels (2005). Das wohl wichtigste Europarat-Abkommen ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 und ihre Zusatzprotokolle.

Zu den Besonderheiten der EMRK gehört, dass man die durch sie garantierten Menschenrechte vor einem speziellen Gericht einklagen kann. Seit 1994 ist das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg, davor war es die  Europäische Kommission für Menschenrechte. Klagen kann in Strassburg jeder Einwohner der Mitgliedstaaten. Das ist allerdings einigermassen aufwendig und erst möglich, nachdem der jeweilige nationale Rechtsweg beschritten und ausgeschöpft wurde.

Jedes der 47 Mitgliedsländer des Europarats stellt einen Richter oder eine Richterin, die von der Parlamentarischen Versammlung gewählt werden. Liechtenstein ist insofern ein Spezialfall, als es sich durch einen Schweizer vertreten lässt. Bei der Urteilsfindung ist jeweils auch der Richter aus jenem Land beteiligt, gegen das geklagt wurde. Dies, um zu gewährleisten, dass der Entscheid in Kenntnis des Landesrechts geschieht.

Einzelne erstreiten Rechte für alle

Das Schweizer Parlament hat die EMRK erst 1974 ratifiziert. Damit ein Beitritt überhaupt möglich wurde, musste die Schweiz zuvor das Frauenstimmrecht einführen (1971) und den Verfassungsartikel gegen die Jesuiten streichen (1973).

Erfolgreiche Klagen in Strassburg trugen zu einer Modernisierung und Harmonisierung des Schweizer Zivil- und Strafprozessrechts bei. Dank Strassburg sind heute Asbestopfer besser gestellt und muss man nach einer Scheidung nicht mehr wie früher drei Jahre warten, bis man sich wieder verheiraten darf.

Ein Entscheid des Europäischen Gerichtshofs war es auch, der auf die fehlende gesetzliche Grundlage für den Einsatz von Sozialdetektiven hinwies. Dass darauf die eidgenössischen Räte ein fragwürdiges Gesetz zusammenschusterten, geht nicht auf das Konto irgendwelcher «fremder Richter», sondern auf dasjenige von Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentariern.

In den letzten Jahren gibt es von Seiten Russlands, aber auch von Seiten Grossbritanniens oder Dänemarks Bestrebungen, die EMRK und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu relativieren. Dies hängt mit dem Erstarken nationalistischer und autoritär-populistischer Kräfte zusammen, für die das Kollektiv und nicht das Wohl des Individuums im Zentrum steht. Bei einer Annahme der SVP-Selbstbestimmungsinitiative müsste die Schweiz die EMRK wohl über kurz oder lang künden. Damit würde auch unsere Mitgliedschaft beim Europarat ein unrühmliches Ende finden.

Georg Kreis: «Fremde Richter. Karriere eines politischen Begriffs». Verlag hier und jetzt. 132 Seiten.

Oliver Diggelmann: «Völkerrecht. Geschichte und Grundlagen mit Seitenblick auf die Schweiz.» Verlag hier und jetzt. 216 Seiten.

A. Gross/F. Krebs/M. Stohler/C. Wermuth (Hrsg.): «Freiheit und Menschenrechte. Nein zur Anti-EMRK-Initiative der SVP». Editions le Doubs. 235 Seiten.

Kilian Meyer, Adrian Riklin (Hrsg.): «Frau Huber geht nach Strassburg. Die Schweiz vor dem Gerichtshof für Menschenrechte». WOZ-Buch. 216 Seiten.

Zur Abstimmung vom 25. November

https://tageswoche.ch/?p=1737594
https://tageswoche.ch/politik/selbstbestimmungs-initiative-europaeische-richterin-warnt-vor-gefaehrlichem-dominoeffekt/

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