Gewalt erreicht neues Niveau

Der Dienstag in Kiew: Völlig unerwartet eskaliert die Lage. Schwerbewaffnete Sicherheitskräfte begannen am Abend damit, den von tausenden Regierungsgegnern besetzten Unabhängigkeitsplatz zu stürmen.

Am Dienstagabend steht der Unabhängigkeitsplatz in Flammen. (Bild: Keystone)

Der Dienstag in Kiew: Völlig unerwartet eskaliert die Lage. Die Demonstranten umzingeln das Parlament und liefern sich blutige Scharmützel mit der Polizei, die das Regierungsviertel verbissen verteidigt. Drinnen tagt das ukrainische Parlament. Am Abend beginnen schwerbewaffnete Sicherheitskräfte damit, den von tausenden Regierungsgegnern besetzten Unabhängigkeitsplatz zu stürmen.

Der Tag beginnt mit dem Auszug der Demonstranten vom Maidan-Platz: Über die bislang nicht besetzte Institutska-Strasse ziehen mehrere Tausend von ihnen hinauf in Richtung Parlament, die Rada. Angeführt wird der «friedliche Ansturm auf die Rada», wie die radikale Opposition ihn nennt, von den Parteiführern Arsenij Jazenjuk und Oleh Tjahnybok.

Das Parlament ist nah – nur einen Häuserblock entfernt, aber es ist auch klar: Alle Zugänge sind gesperrt, und ein wie auch immer gearteter Ansturm wird Gewalt provozieren. Nicht umsonst hatten sich Spezialeinheiten und Demonstranten vor einem Monat heftige Kämpfe geliefert: Der Staat verteidigte das Parlament.

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Steine und Molotow-Cocktails

Während der Grossteil der Demonstranten die Institutska-Strasse hochzieht, versuchen einige Bewaffnete, die Strassensperren vor den zum Parlament führenden Querstrassen zu durchbrechen. Die Polizei scheint völlig überrascht: Die Demonstranten stürmen die von der Polizei zur Blockade aufgestellten LKWs an der Schowkowitschna-Strasse, entwaffnen die Polizisten und werfen sie zu Boden. Anschliessend zünden sie die Lastwagen an. Einige Meter weiter steht jedoch ein dichter Kordon der Polizei. Bald fliegen Steine und Molotow-Cocktails in die eine und Blendgranaten in die andere Richtung.

Der übrige Teil der Demonstranten hat die von der Polizei blockierten Querstrassen derweil umgangen und attackiert die Polizei im Park, der ans Parlament angrenzt, und in dem einige tausend Gegendemonstranten auf dem «Antimaidan» für Janukowitsch demonstrieren.
Südlich der Rada liegt die Gruschewski-Strasse: Dort zünden die Demonstranten am Morgen wieder die Wälle aus Autoreifen an, und bald zieht eine dichte Rauchwolke in Richtung der Polizisten.

Das Parlament ist nun von allen Seiten umzingelt. Das ist die Drohkulisse, vor der die Sitzung des Parlaments an diesem Dienstag beginnt. Dort haben die Abgeordneten der Opposition gleich zu Beginn die Rednertribüne besetzt. Sie fordern die Rückkehr zur Verfassung von 2004, hier und heute. Doch die Abgeordneten der «Partei der Regionen», ohne deren Stimmen das Dokument nicht verabschiedet werden kann, verlassen einfach den Sitzungssaal.

Entscheidung notwendig

Sie hätten einen Vorschlag erarbeitet, den die Hälfte der «Regionalen» unterstütze, erklärt am Mittag Inna Bogoslowskaja, die Ende November aus der «Partei der Regionen» ausgetreten war, den Rückzug der Regierungspartei. Sie wüssten schlicht nicht, wie sie nun reagieren sollten. «Wenn wir heute keine Entscheidung herbeiführen, wird nachts das Parlament brennen», prophezeit sie.

Die Eskalation der Lage kommt für die meisten völlig überraschend, weil die Entwicklung der vergangenen Tagen auf Entspannung und Kompromiss hindeutete. Erst am vergangenen Sonntag hatten die Demonstranten das Kiewer Rathaus verlassen und eine Durchfahrt auf der besetzten Gruschewski-Strasse geschaffen – daraufhin konnte das im Januar verabschiedete Amnestiegesetz in Kraft treten.

«Die Menschen auf dem Maidan wollen den Sieg», sagt der Politologe Wladimir Tsybulko. Eine Rückkehr zur Verfassung von 2004 und eine wirtschaftliche Erholung hätte dem Regime eine Atempause verschafft. Aber offenbar sei Janukowitsch dazu nicht bereit.

Die Umzingelung des Parlaments, so Tsybulko, gehe zweifellos von der parlamentarischen Opposition ausgegangen. «Viele auf den Barrikaden und in den Selbstverteidigungseinheiten gehören den Oppositionsparteien von Tjahnybok und Jazenjuk an», so Tsybulko.

Reaktion auf Kompromisse?

Alexander Daniljuk, Führer der radikalen Bürgerbewegung «Spilna Sprawa» (Gemeinsame Sache), die in den vergangenen Wochen mehrere Ministerien besetzte, meint jedoch, dass die Menschen auf dem Maidan von den politischen Führern schon lange nicht mehr kontrolliert würden. «Die Kompromisse mit dem Regime waren ein grosser Fehler», sagt er. «Und das, was wir heute auf der Strasse sehen, ist die Reaktion darauf.» Am Ende könnten keine faulen Kompromisse stehen, sondern nur eines: «Der Rücktritt des Präsidenten und Neuwahlen. Sonst kann es für all jene, die jetzt auf dem Maidan stehen, keine Sicherheit geben.»

Die Zahl der Verletzten geht am Abend in die Hunderte, Sprecher des Maidans berichten von Todesfällen unter den Demonstranten. Zur gleichen Zeit berichtet das Innenministerium, fünf Polizisten hätten Schusswunden von Seiten der Demonstranten erlitten. Das ist nicht unwahrscheinlich: Der «Rechte Sektor» hatte zuvor auf seiner Internetseite alle Ukrainer mit Schusswaffen ins Zentrum Kiews gerufen.

Um 20 Uhr beginnen schwerbewaffnete Sicherheitskräfte damit, den von Tausenden Regierungsgegnern besetzten Unabhängigkeitsplatz zu stürmen. Mit drei Wasserwerfern näherten sich die Spezialeinheiten. Zelte und Lager brennen. Es soll mehrere Explosionen gegeben haben.

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