Gewerkschaften sind der Sündenbock des Sommers

In vielen Schweizer Medienhäusern hat sich offenbar eine grosse Wut gegen Gewerkschaften angestaut. Dabei halten die Vertreter der Arbeitnehmer nur konsequent an ihrem längst bekannten Kurs fest.

Ignazio Cassis und Johann Schneider-Ammann – und der Sündenbock des Sommers.

Die Schweizer Medienlandschaft haut auf die Gewerkschaften ein: NZZ, «Tages-Anzeiger», «Südostschweiz», «Basler Zeitung», «watson.ch», «Aargauer Zeitung» etc. empören sich über den «Paukenschlag» vom vergangenen Mittwoch.

Zu Misstönen Anlass gibt die Tatsache, dass Paul Rechsteiner, seit 20 Jahren Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB, dem Wirtschaftsminister einen Korb gab. Am Telefon teilte der SGB-Boss dem freisinnigen Bundesrat Schneider-Ammann mit, der SGB werde an den Gesprächen über den Lohnschutz nicht teilnehmen.

Der Grund: Laut dem Gewerkschafter hat der Bundesrat rote Linien überschritten. Für Rechsteiner und Konsorten sind die flankierenden Massnahmen zum freien Personenverkehr eine heilige Kuh. Aber wie mittlerweile bekannt wurde, standen mindestens sieben Punkte auf der Traktandenliste, bei denen die Schweiz der EU bezüglich Schutzmassnahmen entgegenkommen sollte. 

Der «Tages-Anzeiger» machte sie publik. Die Forderungen sind weitreichend. So sollen etwa die Massnahmen gegen Scheinselbstständige aus der EU (die Missbrauchsquote lag 2010 bei bis zu 23 Prozent) wieder zur Disposition stehen.

Alles No-Gos für die Gewerkschaften. Rechsteiner begründete den Boykott vor den Medien mit Schneider-Ammanns «Verrat» an den Schweizer Lohnabhängigen. Flugs trat der Bundesrat vor die Medien und sprach seinerseits von einem «Vertrauensbruch».

Wutausbrüche

«Was ist bloss in Paul Rechsteiner gefahren?», fragt Christian Dorer, Chefredaktor der «Blick»-Gruppe, und die Antwort gibt er gleich selbst: Der Gewerkschafter wolle «weder nachdenken noch reden», schliesslich verdiene seine Organisation mit den Kontrollen Geld (die Gewerkschaften streiten dies ab, aber egal) – deshalb Rechsteiners «Irrlauf». So drohe der SGB-Boss gleich selbst «die Grundlage für gute Löhne» in der Schweiz zu zerstören.

«Welch ein Affront!», schreibt Somedia-Chefpublizist Andrea Masüger in der «Südostschweiz». Die Begründung für Rechsteiners Boykott sei «hohl und klassenkämpferisch», dazu «keck und anmassend» – und nicht zuletzt «auch grob unlogisch». Fast gleich klingt Daniel Foppa, Ressortleiter Politik beim «Tages-Anzeiger»: Rechsteiner handle «nicht nur widersprüchlich. Er handelt schlicht verantwortungslos.»

Was ist dran an den massiven Vorwürfen gegen Rechsteiner? Oder anders gefragt: Warum löst der SGB-Fuchs, der nächste Woche seinen 66. Geburtstag feiert, mit seinem Verhandlungsboykott dermassen geharnischte Reaktionen aus?

Rahmenabkommen in weiter Ferne

Es trifft sicher zu, dass Rechsteiners klarer Positionsbezug – und darum handelt es sich beim Boykott – dazu führt, dass es dieses Jahr kaum mehr zu einem Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU kommen wird. Es fehlen die Mehrheiten, und die Zeit für ein Wunder ist wohl schon zu knapp.
Doch das erklärt kaum die Heftigkeit, mit der die bürgerlichen Blätter Rechsteiner und «die Linken» nun zum Sündenbock des Sommers schreiben.

Man greift zur härtesten Waffe der geistigen Landesverteidigung: Paul Rechsteiner handle unschweizerisch, heisst es allenthalben. «Nicht verhandeln ist keine Option», so der «Blick». «Eine Gesprächsverweigerung widerspricht jedoch der Art und Weise, wie hierzulande um Kompromisse gerungen wird», mahnt der «Tages-Anzeiger».

Ja, gar eine 30-jährige «Männerfreundschaft» zwischen Johann Schneider-Ammann und Paul Rechsteiner will der «Tages-Anzeiger» nun beendet sehen, nachdem die beiden, so «die Legende», ihre Differenzen drei Jahrzehnte lang «gesittet» geklärt hätten.

Klare Linie

Der Gewerkschaftsboss vertritt seit Anbeginn der flankierenden Massnahmen die gleichen unverrückbaren Positionen. «Lohnunterbietungen dürfen nicht länger hingenommen werden», sagte Rechsteiner der Zeitung «work» 2007, wenige Jahre nach der Einführung der flankierenden Massnahmen. «Ohne GAV gibts kein Ja zu den Bilateralen», lautete die Botschaft schon damals. 2011: Rechsteiner stört sich laut NZZ daran, «dass die flankierenden Massnahmen vonseiten der EU kritisiert werden, obwohl diese gemeinsam ausgehandelt worden seien».

Schon vor sieben Jahren hielt der SGB seine Position zum Lohnschutz unmissverständlich fest. Man werde «eine Schwächung der flankierenden Massnahmen unter keinen Umständen hinnehmen», schrieb der SGB im Februar 2011. 

Schon damals machte Rechsteiner deutlich, wo er bezüglich EU-Recht steht: «Wenn … die kommerziellen Binnenmarktfreiheiten den national verankerten Arbeitsrechten plötzlich vorangestellt werden und für die Arbeitsbedingungen neu nicht wie heute in der Schweiz das sogenannte Leistungsorts-, sondern das Herkunftsortsprinzip gelten soll, würde das Fundament der flankierenden Massnahmen ausgehöhlt», sagte er.

Und er fügte an: «Der Bundesrat darf deshalb in dieser Frage keine Konzessionen machen, die Gewerkschaften würden ein künftiges Verhandlungspaket mit aufgeweichtem Lohnschutz resolut bekämpfen.»

Farbe bekennen

Man muss nicht in der Gewerkschaft sein, um anerkennen zu können: Paul Rechsteiner vertritt eine klare Linie. Es ist jedenfalls mitnichten so, dass plötzlich etwas in Paul Rechsteiner «gefahren» ist. «Unlogisch» ist sein Boykott auch nicht. Sondern konsequent auf der ganzen Linie.

Der wahre Grund, warum der Boykott der Gewerkschaften für rote Köpfe sorgt, dürfte ein ganz anderer sein. Er zwingt die Bürgerlichen der sogenannten Mitte dazu, endlich Farbe zu bekennen. In schwierigen, in unangenehmen Fragen. Fragen, denen man als Politiker gerne mit Floskeln begegnet. «Ich akzeptiere nicht, dass man mir unterstellt, ich würde … Löhne infrage stellen», sagte Bundesrat Johann Schneider-Ammann. Das aktuelle Schutzniveau müsse erhalten bleiben, das sei klar.

Das ist leicht gesagt. Aber stimmt es auch? Die «Weltwoche» adelte den Wirtschaftsminister schon vor vier Jahren: «Sein liberaler Kompass stimmt.» Das Blatt meinte damit das Gegenteil von Schutzniveau-Erhalt. Wie die «Weltwoche» im April 2014 publik machte, führte Schneider-Ammann in den Jahren 2013 bis 2014 einen erbitterten Kampf gegen den Ausbau der flankierenden Massnahmen. Schneider-Ammann war strikte dagegen – unterlag aber im Gesamtbundesrat.

An eine Szene aus der Vernehmlassung dürfte sich der FDP-Bundesrat dieser Tage wieder erinnern. Laut «Weltwoche» kam es zu einem Eklat in der Arbeitsgruppe, ausgelöst durch Gewerkschaftler: «Unter Protest verlassen sie eine Sitzung, als sich die Arbeitgeber beim strittigen Arbeitgeberquorum für allgemeinverbindliche Gesamtarbeitverträge nicht erweichen lassen. Der starke Mann in der Arbeitsgruppe war Paul Rechsteiner.»

In der Folge versuchte Schneider-Ammann weiter, den Ausbau der flankierenden Massnahmen zu verhindern. Er kam damit nicht durch. Aber die Zusammensetzung des Bundesrates ist heute eine andere. Mit Ignazio Cassis hat Schneider-Ammann in der Sache einen neuen Mitstreiter. Endlich kann man es mit Aufweichungen wieder versuchen. 

Endlich Klartext?

Nur will man das um keinen Preis zugeben. Noch. Oder wird ein Johann Schneider-Ammann es dereinst fertigbringen, vor die Öffentlichkeit zu treten und Dinge zu sagen wie: «Ja, ich würde die flankierenden Massnahmen zum freien Personenverkehr gerne aufweichen. Ich habe es schon ein paar Mal versucht, bisher vergeblich.»

Dass der Streit um die flankierenden Massnahmen das Verhältnis zwischen der Schweiz und Europa zu beeinträchtigen droht, ist zwar bedauerlich. Aber vielleicht könnte er immerhin dazu führen, dass in der nationalen Politik konsequenter gesprochen und gehandelt wird.

Es kann jedenfalls niemand behaupten, man hätte nicht um die roten Linien der Gewerkschaften gewusst. Die Positionen der politischen Pole in der Schweiz sind hinlänglich bekannt. Deutsch, Französisch, Italienisch – und deutlich. Es wird spannend sein, zu hören, wie das klingt, sollte die sogenannte Mitte dereinst beginnen, Klartext zu sprechen.

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