Gibraltar hat sich mit grosser Mehrheit gegen den Brexit ausgesprochen. Auch wenn das in Spanien Gelüste wecken mag und die britischen Medien zum Zweihänder greifen, wird sich am südwestlichen Zipfel Europas nicht viel ändern.
Selbst wer noch nie da war, kennt ihn – den Affenfelsen am Ausläufer der Iberischen Halbinsel. Lange ist es einigermassen ruhig geblieben um Gibraltar, wenigstens in der internationalen Presse. Jetzt aber ist beinahe Unvorstellbares eingetreten und hat erneut zu Schlagzeilen geführt: Zwei spanische Schiffe verletzten zu Beginn des vergangenen Monats beim Mythenfelsen britisches Hoheitsgewässer. Zwei EU-Mitglieder und Nato-Partner in latentem Kriegszustand?
Bei den Schiffen handelte es sich «nur» um ein Forschungsschiff sowie ein Polizeischiff der Guardia Civil. Die britische Seite empfand den Vorfall immerhin als so gravierend, dass in London der spanische Botschafter vorgeladen wurde und der britische Europaminister «signifikante Sicherheitsbedenken» geltend machte.
Beim letzten grösseren Konflikt, im August 2013, hatten umgekehrt gleich drei britische Kriegsschiffe in Gibraltar angelegt. Offiziell waren sie zwar auf dem Weg in den Nahen Osten. Die Geste aber war unmissverständlich – als Reaktion auf den von spanischer Seite verhängten Belagerungszustand mit einem schikanösen Regime an der Landgrenze. Dies war seinerseits eine Reaktion auf die Behinderung spanischer Fischer durch das Anbringen von künstlichen Betonpfeilern zur Sicherung oder Ausdehnung der Hoheitsgewässer.
Auf Ersuchen der Briten entsandte die EU damals eine Beobachter-Mission in die Gegend (und die in Bern stationierte britische Botschafterin Sarah Gillett verschickte Leserbriefe an die Schweizer Presse, um den britischen Standpunkt darzulegen).
Die Gibraltarer hatten wenig überraschend mit 96 Prozent gegen den Brexit gestimmt. Und dies nicht nur wegen der Millionen an Fördergeldern.
Die in jüngster Zeit bekannt gemachten EU-Verhandlungsleitlinien zum Brexit dürften grössere Bedenken ausgelöst haben als die beiden Schiffe. Wohl nicht zufällig waren sie ebenfalls Anfang April bekannt gegeben worden. Darin heisst es explizit, dass kein Abkommen mit dem United Kingdom ohne Zustimmung des spanischen Königreichs abgeschlossen werden dürfe, dieses also Veto-Macht habe.
Die Gibraltarer hatten wenig überraschend mit 96 Prozent gegen den Brexit, also für ein Verbleiben in der EU, gestimmt. Dies nicht nur wegen der Millionen an Fördergeldern, sondern weil es für sie von Vorteil ist, wenn beide Streitparteien dem gleichen politischen System angehören und der Zugang zu Gibraltar für die Berufspendler wie für die EU-Touristen freizügig bleibt.
Auch wenn Premierministerin Theresa May verkündete, dass der Status Gibraltars nicht verhandelbar sei, werden in Spanien die bevorstehenden Verhandlungen von rechts bis links als Chance eingestuft, dem alten Ziel der engeren Verbindung dieses äussersten Landzipfels mit der Iberischen Halbinsel näherzukommen.
Martialische Töne und der Frieden von Utrecht
Die Provokation der Spanier, wenn es denn eine war, hat in den britischen Medien sogleich martialische Reaktionen ausgelöst. Michael Howard, früherer Chef der Konservativen Partei, sagte in die Fernsehkamera, man werde Gibraltar so entschlossen verteidigen wie vor 35 Jahren die Falklandinseln, die ebenfalls von einem spanisch sprechenden Land (Argentinien) bedroht waren.
Ebenfalls Geschichte machte der «Telegraph», griff jedoch viel weiter zurück und höhnte unter Berufung auf einen früheren Admiral Ihrer Majestät: «Spanien sollte aus der Geschichte gelernt haben, dass es sich nicht lohnt, sich mit uns anzulegen.»
Bezog sich das auf den 1588 gescheiterten Versuch der spanischen Armada, mit einer gewaltigen Übermacht die britische Insel zu erobern? Damals waren es mehr Wind und Wellen, die den Spaniern zu schaffen machten, als die Gegenwehr der Briten. Doch das Blatt wird eher an die Schlacht von Trafalgar von 1805 gedacht haben. Damals errang die von Admiral Nelson kommandierte Navy einen wirklich historischen Sieg über die französisch-spanischen Schiffe.
Gibraltar hat ein Kleinparlament, eine eigene Flagge und – wichtiger Existenzbeweis – eine eigene Fussballmannschaft.
Der Fels an der Meerenge wurde 1713 nach einem vor allem zwischen Frankreich und England geführten Erbfolgekrieg im Frieden von Utrecht auch formell britisch. Spanien an der Seite des geschwächten Frankreich musste Herrschaftsbereiche aufgeben: die Niederlande, Italien und neben Gibraltar auch Menorca, das nur vorübergehend in britischer Hand blieb.
Das war Teil einer typisch obrigkeitlich ausgehandelten Lösung – also ohne Konsultation der in Gibraltar wohnhaften Bevölkerung, soweit es diese überhaupt gab. Sie wurde erst im Laufe der Jahrhunderte und in wenig ausgeprägter Weise zu einem Volk, das heute als die Gibraltarer bezeichnet wird. Es hat ein eigenes Kleinparlament, eine eigene Flagge und – wichtiger Existenzbeweis – eine eigene Fussballmannschaft. 2013 wurde Gibraltar in die Uefa und 2016 als 211. Mitglied in die Fifa aufgenommen.
Wer sind die rund 33’000 Einwohner Gibraltars? Eine auf nationale Zugehörigkeit ausgerichtete Erhebung von 1995 besagte, dass in diesem gibraltisch-britischen «Volk» 27 Prozent Briten, 24 Prozent Spanier, 19 Prozent Italiener, 11 Prozent Portugiesen, 8 Prozent Malteser, 3 Prozent Israeli und 2 Prozent Menorquiner steckten. Und, damit die Sache rund und voll wird, dass weitere 4 Prozent aus anderen Staaten stammten und die Herkunft von 2 Prozent nicht eruierbar sei. Nicht explizit berücksichtigt sind da die in anderen Unterlagen aufgezählten Genueser, Sarden, Sizilianer, Savoyer etc.
Seine vielfältige Zusammensetzung machte es in einem gewissen Sinn fast nötig, diesem «Volk» eine gemeinsame Eigenschaft zuzuschreiben, einen besonderen, natürlich nur positiv definierten Charakter: mit Handelstüchtigkeit, besonderem Verantwortungssinn, Toleranz …
1967 sprachen sich in einer Volksabstimmung 100 Prozent gegen den Wechsel zu Spanien aus.
In der Einwohnerzahl von rund 33’000 nehmen die rund 5000 «reinen» Briten und rund 2000 Fremden («Aliens»), meist Marokkaner, eine Sonderstellung ein. Eine Volkszählung von 1948 registrierte auch vier Schweizer. Hinzu kommen heute noch rund 10’000 mehrheitlich spanische Tagespendler. Unter ihnen dürfte es ein paar geben, deren Vorfahren sich um 1703 bei Gibraltars Eroberung durch die Briten aufs spanische Sockelland abgesetzt hatten.
Druckversuche zu Francos Zeiten
Gibraltar war und ist fester Teil des britischen Reichs. Dennoch verfügt es – ähnlich wie Schottland – wenigstens teilweise über ein Selbstbestimmungsrecht, sofern das britische Parlament dies zulässt. Im Fall Gibraltars konnte das Parlament eine Abstimmung über die Zugehörigkeit unbesorgt zulassen, weil es sicher war, dass die Bewohner des Felsens sich für ein Verbleiben im britischen Verband aussprechen würden. Gibraltar zelebriert jeweils am 10. September einen Nationalfeiertag, allerdings erst seit 1992. An diesem Tag fand 1967 eine Volksabstimmung statt, in der sich fast 100 Prozent gegen den Wechsel zu Spanien aussprachen.
Die verschiedenen Druckversuche von spanischer Seite, insbesondere auch zu Francos Zeiten, haben das Ihre dazu beigetragen, aus Gibraltars Bevölkerung eine «Nation» zu machen.
Gibraltar hat einen Sonderstatus in der EU und ist nicht an den allgemeinen Aussenzoll gebunden, was tiefere Tabakpreise ermöglicht (mit illegalem Export nach Spanien) sowie den Drogenhandel und die Geldwäscherei begünstigt, Investoren anzieht und den Bauboom anheizt. Gibraltar leidet unter dem Image, ein Parasiten-Gebilde zu sein. In der unmittelbaren spanischen Nachbarschaft stört man sich (anders als im fernen Madrid) daran wenig, weil man ebenfalls davon profitiert.
1988 kam eine Delegation nach Basel, um zu studieren, wie man einen binationalen Flugplatz organisiert.
Ein besonderes Problem bildete der Flugverkehr: Konnten Gibraltar-Landungen der «Iberia» als Inlandflüge eingestuft werden und drohte damit der Einfall Trojanischer Pferde? Und wie waren die Ausgänge für die Flugpassagiere an der gibraltisch-spanischen Grenze zu organisieren? 1988 kam eine Delegation nach Basel, um zu studieren, wie man einen binationalen Flugplatz organisiert. Heute gibt es auch ein spanisches Terminal.
Spanien fordert nicht die Heimführung einer «unerlösten» Bevölkerung, sondern schlicht, gestützt auf die Topografie, die Vervollständigung seines Gebiets. Gleichzeitig hält es mit widersprüchlicher Selbstverständlichkeit an den Exklaven Ceuta und Mellila auf nordafrikanischem Territorium fest.
Gibraltar ist für beide Seiten vor allem ein Symbol: für die Spanier so etwas wie ein schmerzender Dorn in der Ferse, für die Briten ein Zeichen der Festigkeit und Beständigkeit – daher die Redewendung «solid as the rock of Gibraltar». In England ist auch schon Verständnis für Spaniens Schmerz aufgekommen – ausgehend von der Überlegung, wie Briten mit der Tatsache umgehen würden, wenn aus historischem Zufall Frankreich (!) einen Teil Cornwalls besetzt hielte.
Angesichts des jüngsten Säbelgerassels in den britischen Medien monierte ein Betriebswirtschaftler in der spanischen «El País», dass es in Anbetracht der engen Wirtschaftsbeziehungen nicht gut wäre, Krieg zu führen. Dabei machte er unter anderem darauf aufmerksam, dass eine Million Briten Häuser und Häuschen in Spanien besässen.
Eine nicht untypische Diskussion dreht sich um die Frage, wer von den gegenwärtigen Verhältnissen mehr profitiert: die Briten, die Spanier oder die Gibraltarer? Gern wird auch die negativ gedrehte Frage aufgeworfen, wer grösseren Schaden nähme, wenn derzeit Unbefriedigendes erneut zu unversöhnlichen Gegensätzen verschärft würde.
Die Prognose: Auch mit dem Brexit wird sich kaum viel ändern.
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Zur «ganzen» Geschichte Gibraltars: Georg Kreis, «Gibraltar: ein Teil Europas», Basel 2001, 53 Seiten.