«Gibt es ein Fundbüro für Menschen?»

Die Schauspielerin und Regisseurin Ute Sengebusch engagiert sich dafür, Kinder und Jugendliche in die Debatte um «Sans-Papiers» mit einzubeziehen.

«Warum darf ein Mensch nicht selbst entscheiden, wo und wie er leben will?» Das fragt sich Ute Sengebusch in ihren Theaterstücken. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Die Schauspielerin und Regisseurin Ute Sengebusch engagiert sich dafür, Kinder und Jugendliche in die Debatte um «Sans-Papiers» mit einzubeziehen.

Szene 32, Brücke
Hanna: «Ist doch egal, wo das blöde Schiff hinfährt!»
Passant: «Ist deine Freundin mit auf dem Schiff?»
Hanna: «Das weiss ich nicht. Sie ist jetzt einfach weg. Sie ist eine Illegale. So heisst das.»

Hanna ist elf Jahre alt. Sie ist ein ganz normales Mädchen. Aber sie ist traurig. Verwirrt. Weil ihre beste Freundin Luna weg ist. Einfach weg.

«Wo ist Luna?» heisst das neue Stück, das Ute Sengebusch (33) gemeinsam mit Dramaturgin Sarah ­Buser geschrieben hat. Sengebusch ist selbst Schauspielerin, arbeitet hier auch als Autorin und Regisseurin. Gerade überlegt sie mit Lukas Kubik, welche Körpersprache die einzelnen Figuren charakterisieren könnten.

«Ich glaube, der Passant hat immer die Hände am Geländer. Ausser, er schaut gerade auf die Uhr, ob die Schiffe pünktlich sind. Etwa so», sagt Sengebusch bei der Probe zu Kubik, der den Passanten spielt, und streckt elegant den Arm, damit das imaginierte Jackett den Blick auf die Armbanduhr freigibt. «Mit Bewegungen kann man ausdrücken, was so ein Konflikt mit jemandem macht», sagt sie später im Gespräch. «Wir suchen einen Ausdruck für das Fehlen von Luna, aber auch ganz typische Erwachsenengesten. Wort und Geste sind beides Mittel, um zu erzählen.»

Szene 32, Brücke
Hanna: «Glaubst du, ich finde meine Freundin?»
Passant: «Ich weiss es nicht.»
Hanna: «Hast du so ein Papier?»
Passant: «Ja.»
Hanna: «Wer verteilt das?»

«Wo ist Luna?» erzählt aus Kinderperspektive, was es heissen kann, wenn jemand plötzlich weg ist. Nicht mehr da sein darf. Wie sich Kinder ­einem Thema annähern, das ein ­genuin erwachsenes ist. Was sind «Papiere»? Was heisst «illegal»?

Wer darf wo leben?

Ute Sengebusch stammt aus Wiesbaden. Sie hat in Zürich Theater studiert und arbeitet freischaffend. Ihr Partner ist Schweizer; sie hat drei Kinder, Zwillinge von 4 Jahren, ein 6 Monate altes Baby.

Weshalb beschäftigt sie sich mit dem Thema Illegalität? «Weil ich es unbegreiflich finde, dass ein Mensch nicht selbst entscheiden darf, wo und wie er leben will», antwortet sie. Die Thematik treibt sie nicht erst seit der Masseneinwanderungsinitiative um. 2012 lief ihre Arbeit «Wart schnell» im Vorstadttheater. Mit fünf jugendlichen Asylbewerbern erarbeitete sie ein Stück, worin die Situation des Wartens ins Zentrum gerückt wurde.

«Ich wollte nicht diejenigen zu Wort kommen lassen, die sonst die Debatten führen: Nämlich die, die hier sein dürfen. Sondern ich wollte die Perspektive wechseln, das Thema von innen erzählen», erklärt sie. Das Schwierigste sei gewesen, die jugendlichen Darsteller zu finden. Der Leiter des Empfangs- und Verfahrenszentrums zeigte sich unkooperativ und liess sich am Telefon verleugnen. Doch dann konnte Sengebusch an der Schule für Brückenangebote, wo viele jugendliche Asylbewerber Deutsch lernen, ihr Projekt vorstellen. Von den wenigen Frauen in den Klassen – sie werden weitaus seltener auf die harte Reise ins Asylland geschickt – interessierte sich keine. Aber zwölf junge Männer wollten mitmachen.

Manch ein Jugendlicher wartete drei Jahre auf ein Ja oder ein Nein zu seinem Asylantrag.

Am Anfang habe sie mit Händen und Füssen kommuniziert, manchmal auf Englisch, später immer besser auch auf Deutsch. Sengebusch versuchte herauszufinden, was es für die Jugendlichen bedeutet, zu warten. Und musste dabei auch respektieren, wenn da Geschichten zu Tage traten, die schmerzten, zu intim waren, um sie auf der Bühne zu zeigen.
Im Zentrum des Stückes stand deshalb, wie der Lebensinhalt Warten praktisch umgesetzt wird. «Für diese Jugendlichen gibt es ja nicht nur das Warten auf Godot, auf den Asylbescheid, sondern auch ganz viele andere Dinge, auf die sie warten: eine Lehrstelle, ein Auto, eine Freundin, das Wiedersehen mit den Eltern …»

An zwei Nachmittagen pro Woche sollte geprobt werden, viereinhalb Monate lang. Das hat viele Nerven ­gekostet. «Es gab Proben, da ist kein Einziger erschienen!», erzählt Sengebusch. Die Jugendlichen seien es nicht gewohnt gewesen, verbindlich sein zu müssen. Vielleicht, weil auch die Schweiz sich nicht verbindlich zu ihnen äusserte. Manch ein Jugendlicher wartete drei Jahre auf ein Ja oder ein Nein zu seinem Asylantrag.

Ans Aufgeben hat Sengebusch dennoch nur kurz gedacht. «Zehn Tage vor der Premiere hätten wir beinahe alles abgesagt!», lacht Sengebusch. «Doch wir haben ein intensives Gespräch mit den Jugendlichen geführt; und diejenigen, die sich dann dafür entschieden, haben sich voll dafür entschieden. Und haben es super gemacht!» Virtuos zeigten sie auf der Bühne, was sie am Leben hält: Sport, Rap, spezielle Hobbys und immer wieder das gemeinsame Kochen der Speisen aus ihrer Heimat; Eritrea, Äthiopien, Tibet. Alle Vorstellungen waren ausverkauft.

«Die Integrations- und Berufswahlklassen der Schule für Brückenangebote besuchten gemeinsam eine Vorstellung», berichtet sie, «später haben mir die Lehrer erzählt, dass die Stimmung am nächsten Tag eine ganz andere war. Besser. Die Schüler haben gemerkt, dass ihnen jemand zugehört hat, sie durften ihre Geschichte erzählen, wurden ernst genommen.»

Vom Wunsch, «normal» zu sein

«Wo ist Luna?» ist die logische Fortsetzung zu «Wart schnell». Als Vorbereitung hat Sengebusch Interviews mit Jugendlichen geführt, die eine «Sans-Papiers»-Vergangenheit hatten. Die meisten von ihnen sind in der Schweiz geboren. «Viele Kinder wissen gar nicht, dass sie keine Papiere haben», erzählt Sengebusch, «sie spüren das Verborgene, das Nicht-­darüber-reden-dürfen. Sie dürfen nicht auffallen. Schwarzfahren oder irgendwo lange herumstehen ist zu gefährlich. Die meisten sind viel zu Hause.»

Angst sei ein grosses Thema, aber auch das Normalsein und Dazugehören-wollen. «Alles Offizielle ist diesen Jugendlichen verwehrt. Sie dürfen zur Schule gehen, aber keinen staatlichen Abschluss erwerben. Sie dürfen im Fussballverein mittrainieren, aber keine offiziellen Spiele bestreiten. Das ist frustrierend.»

Weshalb arbeitet Sengebusch diesmal mit Profischauspielern? «Erst einmal ist es ganz schwer, überhaupt Kontakt zu «Sans-Papiers» zu bekommen. Zudem hat es mich auch künstlerisch interessiert, mit Profis zu arbeiten, ganz konzentriert, fünf Tage die Woche, sechs Wochen lang. So kann ich das Thema literarischer angehen.» Deshalb erzählt sie diesmal die Geschichte aus der Perspektive derjenigen, die hier sein dürfen. «Sonst könnte es leicht anmassend wirken», ist Sengebusch überzeugt.

Szene 31, Brücke.

Passant: «Kein Mensch ist illegal.»
Hanna: «Aber Simons Vater sagt das.»
Passant: «Jetzt sage ich dir was: Illegal ist eine Erfindung von denen, die nicht teilen wollen.»

«Ein Plakat wie ‹Keiner flüchtet freiwillig!› drückt so viel aus.»

Nach der Annahme der Masseneinwanderungssinitiative fuhr Sengebusch zur spontanen Demonstration am Claraplatz. Sie erzählt: «Ein Taxifahrer hielt ein Plakat hoch: ‹Keiner flüchtet freiwillig!› Das drückt so viel aus! Niemand nimmt eine monatelange, gefährliche Reise auf sich, um jemandem zu schaden!»

Die Argumente der Abstimmungsbefürworter kann sie gar nicht nachvollziehen: «Es ist wirtschaftlich möglich, dass hier mehr Menschen leben, welche die Gesellschaft mitprägen und mittragen. Ich finde es zu kurzfristig gedacht, wenn jeder nur bis zu den eigenen Schuhspitzen schaut!»

Ihren beiden Söhnen (4) vermittelt sie die Thematik ebenfalls. Gemeinsam haben sie an ihrem Wohnhaus im St. Johann – einer Genossenschaft – ein Plakat mit der Aufschrift «Kein Mensch ist illegal!» aufgehängt. «Auch Kinder in diesem Alter können schon begreifen, was es bedeutet, dass wir uns nicht nur um uns selber kümmern», sagt Sengebusch.

Szene 20
Tim: «Mama, wenn ich im Zug meinen iPod vergesse …»
Tims Mutter: «Hast du deinen iPod verloren? Das ist nicht so schlimm. Ich geb dir Geld für einen neuen.»
Tim: «Nein, ich hab nichts verloren …»
Tims Mutter: «Dann weiss ich auch nicht, was du willst. Frag Papa.»
Tim: «Papa, gibt es ein Fundbüro für Menschen?»

_
«Wo ist Luna?» – Detektivgeschichte mit «3ohne4» von der Firma für Zwischenbereiche. Für alle ab 8 Jahren. Vorstadttheater, St. Alban-Vorstadt 12, Basel. Premiere: 5. 4., 19 Uhr. www.vorstadt-theater.ch

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 14.03.14

Nächster Artikel