1914 geht eine Welt unter. In Georg Trakls letztem Gedicht «Grodek», geschrieben kurz nach Kriegsausbruch, erklingt sie nochmals.
«Grodek» ist vermutlich das letzte Gedicht des österreichischen Dichters Georg Trakl. Kurz nach Ausbruch des 1. Weltkriegs rückte er als Militärapotheker ein und wurde an der Ostfront stationiert. Im September 1914 trafen nahe der galizischen Kleinstadt Gródek, heute Ukraine, österreichisch-ungarische und russische Truppen aufeinander.
Während der Schlacht war Trakl im Lazarett zuständig, mit ungenügender Ausstattung und ganz auf sich allein gestellt. Es trafen hundert verletzte Soldaten ein, denen er nicht helfen konnte. Er erlitt einen Zusammenbruch und starb acht Wochen später an den Folgen einer Überdosis Kokain. Trakl wurde 27 Jahre alt.
Wenige Tage vor seinem Tod entstand das Gedicht «Grodek», in dem Trakl den Abend der Schlacht beschreibt. Es spricht aus einer alten Welt. Seine Sprache ist uneingeschränkt beweglich, doch immer noch einer grammatikalischen Richtigkeit verpflichtet. Sie wurzelt in der Mitte des 18. Jahrhunderts bei Klopstock und verstummt mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Schon 1916 treffen sich in Zürich zum ersten Mal die Dadaisten.
Bei Trakl hingegen lebt noch ein hoher Ton. Die Satzgefüge verrenken sich bis zum Äussersten, doch sie sind intakt. Wie eine biegsame Rute kurz vor dem Bruch.
Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt,
Das vergossne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Strassen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
Zu grüssen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre,
Die heisse Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
Die ungebornen Enkel.
Die Worte «Am Abend» eröffnen das Gedicht. Sie setzen den Zeitpunkt der Szene und ermöglichen den folgenden Satzbau: «tönen die herbstlichen Wälder». Nach dem Strichpunkt in Vers vier schliesst der Text an dieses «Am Abend» an, wodurch auch der folgende Satz grammatisch funktioniert: «[Am Abend] umfängt die Nacht | Sterbende Krieger, die wilde Klage | Ihrer zerbrochenen Münder.»
Der Satzbau, bereits strapaziert, ist gerettet, doch die Rettung hat ihren Preis. Es ist noch Abend, und zugleich ist schon von Nacht die Rede. Zwei Zeitpunkte kollidieren, der lineare Fluss der Zeit ist unterbrochen. Etwas stimmt nicht.
«Auch das Schöne muss sterben!», schrieb Schiller 1799 im Gedicht «Nänie». Doch «ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich; | Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.»
Wie unendlich weit ist das nun weg. Schiller kann über die Sterblichkeit hinwegtrösten, weil es auch die schöne Klage gibt. Auch bei Trakl klagen die Krieger, doch die Klage ergibt kein Lied mehr. Sie ist «umfangen» von der Nacht. Erklingt sie überhaupt? Auch kein anderer kann das Lied anstimmen. Sogar ein Gott erscheint, doch das «Gewölk», in dem er wohnt, ist «stille». Aus dem «Zürnen» des Gottes wird schon lange kein Gesang mehr.
Etwas ist kaputtgegangen
Immerhin, der «Schwester Schatten» erscheint, «Zu grüssen die Geister der Helden». Immerhin ein Gruss. Doch die Szene bleibt mysteriös. Wer ist die Schwester? Trakls eigene, heiss geliebte? Und warum bloss ihr Schatten? Auch die «dunklen Flöten des Herbstes» sind ein reiner Geistergesang.
Etwas ist hier kaputtgegangen. Ein ganzer Lebensstrang bricht ab. Das Gedicht schliesst mit «Enkeln», die nicht «geboren» werden. Es sind die Enkel der toten Krieger, aber auch die einer ganzen Kulturzeit. Sah Trakl selbst eine ganze Epoche untergehen?
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls ging er selbst an der Schlacht bei Gródek zugrunde.
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