Am 14. März war es endlich so weit: Angela Merkel durfte zum vierten Mal die Hand zur Leistung des Amtseids erheben und versprechen, dass sie ihre Kraft «dem Wohle des deutschen Volkes» widmen werde – so wahr ihr Gott helfe. Diesmal vor dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble, der zuvor ihr Minister und loyaler Rivale in der Regierung gewesen war und ihr jetzt «alles Gute auf Ihrem schweren Weg» wünschte.
Deutschland hat nach 150 Tagen wieder eine Regierung! Man hat zwar die frivole Meinung vernehmen können, dass eine Zeit ohne Regierung doch eine gute Zeit sei. Das konnte aber nur jemand sagen, der sich sicher sein durfte, dass die bisherige, bloss geschäftsführende Regierung bis zur Bildung der neuen Exekutive einen guten Job macht.
Und es stimmt ja: Merkel und ihr Deutschland – und Deutschland und seine Merkel haben es in den letzten Jahren wirklich nicht schlecht oder sogar gut gemacht. Es zeugt von unberechtigter Geringschätzung der bisherigen Regierungsleistungen, wenn mit leiser oder lauter Genugtuung festgestellt wird, diese Ära neige sich nun endlich dem Ende zu.
Das Finale ist in der Tat in Sichtweite, bereits befassen sich Kommentatoren mit der Frage, wie es «danach» weitergehen werde. Die Ansicht, dass es in Anbetracht der schwächelnden Volksparteien nur besser werden könne, entbehrt jedoch der Grundlage.
Das Schlimmste an der regierungslosen Zeit war, dass man nicht wissen konnte, wie sie ausgehen würde – mit einem Erfolg der Koalitionsverhandlungen, mit Neuwahlen oder gar mit einer Minderheitsregierung, die jederzeit hätte gestürzt werden können.
Problematisch ist, dass sich die Koalitionspartner allesamt erneuern müssen. Das wird das Bündnis automatisch belasten.
Suboptimal war sicher auch, dass sich die geschäftsführende Regierung in ihren Auftritten gegen aussen, im Club der EU, gegen die Türkei, gegen Russland wie Amerika, eine gewisse Zurückhaltung auferlegen musste.
Nun ist diese Zeit vorbei. Kann Deutschland jetzt zu einer Normalität, die es zuvor eigentlich auch nicht gegeben hat, zurückkehren? Problematisch ist, dass die Koalitionspartner CDU/CSU/SPD keine stabilen Grössen sondern alle in einem Schwächezustand sind und sich erneuern müssen. Das wird das Bündnis automatisch belasten.
Die SPD muss wieder sozialistischer werden, das Tandem der beiden C-Parteien wieder konservativer. Schon bald stehen erneut Wahlen an, denen man Testcharakter zuschreibt: im Mai in Schleswig-Holstein, im Oktober in Bayern und Hessen.
Gute Beute für die SPD
Kann das gut kommen? Ein Alarmsignal könnte schon darin gesehen werden, dass 35 Abgeordnete der im Bundestag über 399 Sitze verfügenden Regierungskoalition der Kanzlerin ihre Stimme verweigert haben und die Partner der Grossen Koalition, vulgo GroKo, sich nun wegen des Abstimmungsgeheimnisses gegenseitig verdächtigen können, dafür verantwortlich zu sein, dass Merkel mit 364 Stimmen nur neun Stimmen mehr erhielt, als dies für die im ersten Wahlgang vorgeschriebene absolute Mehrheit erforderlich war.
Profilieren können sich die Koalitionsparteien mit den ihnen überlassenen Ministerien. Die SPD hat da gute Beute gemacht: das Finanzministerium, das Justizministerium, das Aussenministerium und natürlich die Vizekanzlerschaft (mit dem Hamburger Olaf Scholz).
Die CSU wurde mit dem Innenministerium bedient, aus dem der Ex-CSU-Chef, der in seinem Stammland Bayern einem Nachfolger Platz machen musste, sogleich ein Heimatministerium machte.
Horst Seehofer nutzte die neue Position, um dem bekannten Merkel-Wort, das eigentlich von Bundespräsident Wulff stammt, zu widersprechen: Nein, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Abschwächend schob er allerdings nach: Die Muslime aber schon. Merkel musste dann kontern: Mit den vier Millionen Muslimen gehöre auch deren Religion zu Deutschland.
Politik bleibt die Kunst des Möglichen
Immerhin gibt es einen Koalitionsvertrag. Auf 180 Seiten sind die Ergebnisse der wochenlangen Verhandlungen in Leitlinien und Zielsetzungen festgelegt worden: Flüchtlinge, Dieselmotoren, Minimallohn etc. Das ist im Prinzip eine sehr gute Sache – und auch schon den schweizerischen Regierungsparteien zur Nachahmung empfohlen worden. Ein Blick in die letzte Legislaturperiode zeigt allerdings, dass da viel passiert ist, was nicht vereinbart worden war, und viel Vereinbartes nicht verwirklicht worden ist.
Das kann man kritisieren, was aber nur möglich ist, weil es vorher zur ernsthaft deklarierten Absicht gemacht und verschriftlicht worden war, was doch mehr ist als die zumeist überzogenen Versprechen im Wahlkampf.
Vielleicht muss man daran erinnern, dass Regierungsbildungen generell den Mehrheitsverhältnissen in den Parlamenten Rechnung tragen müssen. Im Falle des neuen Bundestags errang von 709 Sitzen die Union bloss 246 Sitze. Der erste Koalitionsversuch hätte die 80 Sitze der FDP und die 67 Sitze der Grünen einbringen sollen. Nach dessen Scheitern konnten – im Prinzip – dann die 153 Sitze der SPD eingebunden werden.
Dass mit diesen verschiedenen möglichen Koalitionen das Zusammengehen ganz unterschiedlicher Partner angedacht worden war, könnte eine bedenkliche Beliebigkeit von politischen Ausrichtungen aufzeigen. Verurteilen kann man das aber nur aus fundamentalistischen Positionen. Politik bleibt die Kunst des Möglichen.
In den Urteilen, welche Koalitionen machbar sind und welche nicht, werden die Parteien einheitlicher gesehen, als sie sind.
Erstaunlich und doch wenig erstaunlich ist, wie ungnädig die Presse in der Regel mit Koalitionsverhandlungen umgeht. Schnell ist von Verrat alter Positionen, von Machtteilhabe um jeden Preis, von Postenschacher die Rede. So geschieht es im Moment in Italien, so war es davor in Österreich und jetzt gerade in Kärnten, wo auf Landesebene die SPÖ mit der ÖVP, also ihrem Hauptgegner auf nationaler Ebene, an einer gemeinsamen Regierungsplattform arbeitet.
Mehrfarbige Ampel-Versuche oder Jamaika-Sondierungen bekommen von der Basis kaum Vorschusslorbeeren. Das steht teilweise im Widerspruch zu den stark zurückgegangenen Parteibindungen.
In den Publikumsurteilen darüber, welche Koalitionen machbar sind und welche nicht, werden die Parteien einheitlicher gesehen, als sie sind. In Wirklichkeit sind sie fast überall und besonders ausgeprägt etwa in Grossbritannien (Tory/Labour) von unterschiedlichen Strömungen geprägt, ja von Spaltungen bedroht. Angesichts der zunehmenden Fraktionierungen besteht eine Kernaufgabe der politischen Führungsfiguren darin, jenseits der politischen Sachfragen die zentrifugalen Kräfte der eigenen Parteien zusammenzuhalten.
Eine Stärke von Grossen Koalitionen: Die Kosten für unpopuläre, aber nötige Massnahmen werden verteilt.
Starke Mehrheiten haben ihre Vorzüge, weil sie handlungsfähig sind und klare Programme ohne Abstriche und Verwässerungen verfolgen können. Darum weiss man einigermassen, woran man ist. Es gibt aber auch die Vorzüge der numerischen Schwäche. Der Zwang, Kompromisse einzugehen, hat auch seine guten Seiten. Auch schwache Positionen können zu starken Regierungsteams führen, wenn und weil legitime Forderungen aus anderen Positionen hinzukommen.
Auf eine wichtige Stärke von Grossen Koalitionen hat der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Monti noch vor den Wahlen in seinem Land hingewiesen: Die politischen Kosten für unpopuläre, aber nötige Massnahmen werden auf verschiedenen Schultern zwischen links und rechts verteilt.
Der aktuelle Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier redete der neuen Regierung bei der Vereidigung auf Schloss Bellevue ins Gewissen: Deutschland sei gespalten, die Welt in Aufruhr, grosse Herausforderungen würden darauf warten, gemeistert zu werden, die Demokratie durchlaufe eine Bewährungsphase.
Mit anderen Worten: Nach den Wahlen vom vergangenen Herbst und der im anbrechenden Frühling nun endlich zustande gekommenen Regierungsfähigkeit dürfen die Inhaber der Regierungsverantwortung nicht zur Tagesordnung übergehen. Noch am gleichen Abend fand die erste Kabinettssitzung statt.
Die Schweiz lebt auf allen Ebenen permanent von und mit grossen Koalitionen.
Der Preis der deutschen GroKo umfasst unter anderem, dass die Zusammenarbeit in der Mitte den radikalen Flügelkräften Auftrieb gibt: rechts der AfD und links der Linken und in der eigenen Mitteposition den Liberalen, denen mediale Profilierung wichtiger ist als der Realeinsatz für liberale Werte.
Die AfD (mit ihren auf Anhieb 94 erworbenen Sitzen) wird die Konstellation nutzen, um vor allem im schlecht vertretenen und strukturschwachen «Osten», in den neuen Bundesländern, ihre Anhängerschaft auszubauen.
Die Schweiz lebt auf allen Ebenen permanent von und mit grossen Koalitionen. Doch gerade hier werden die im Ausland unternommenen Versuche, aus Mandaten verschiedener Parteien, die sich zuvor im Wahlkampf fast aufs Blut bekämpft haben, eine tragfähige Regierungsmehrheit zu bilden, mit despektierlichen Kommentaren versehen. Das nennt man hierzulande Kuhhandel. Fragwürdig findet man einen solchen aber nur, wenn ihn andere abschliessen.