Nur weil sich die Vereinheitlichung der Schweizer Bildungslandschaft verzögert, bedeutet das noch lange nicht das Ende der Schulharmonisierung. Dies sind die Etappen auf dem Weg zum Lehrplan 21.
In diesen Tagen beginnt das neue Schuljahr – und es beginnt in der ganzen Schweiz sozusagen gleichzeitig, nämlich zwingend zwischen Mitte August und Mitte September. Heute eine Selbstverständlichkeit, hatte es vor dreissig Jahren dazu noch fundamentale Grabenkämpfe gegeben. Sollte man nicht besser im Frühjahr beginnen, beziehungsweise dies in den Kantonen so belassen, wo es bereits auf diese Weise geregelt war?
Schuljahresbeginn, wenn die Knospen spriessen! Aus pädagogischer Sicht konnte man dafür oder dagegen sein. Ausschlaggebend war die Einsicht, dass die Lösung in der kleinen Schweiz mit ihren vielen noch kleineren Kantonseinheiten einheitlich sein sollte.
Die befürwortenden Argumente waren naheliegend: vereinfachter Wohnsitzwechsel angesichts der gewachsenen Binnenmobilität, weniger Repetitionen und nahtloser Anschluss an die Berufsbildung für Kantonsgrenzgänger. Der Souverän sprach sich im September 1985 deutlich für einen einheitlichen Schuljahresbeginn aus. Gegen diese vernünftige Lösung, daran sei erinnert, sprach sich schon damals vor allem die SVP aus – und die Nationale Aktion.
Aber, auch schon damals war die SVP nicht alleine, immerhin stimmten rund 700 000 Bürgerinnen und Bürger dagegen, das heisst 41,2 Prozent. Doch die Mehrheit konnte froh, fröhlich und vielleicht auch ein wenig stolz darauf sein, dass im Urgebirge des Föderalismus wenigstens diese Minimal-Harmonisierung zustande kam.
Immer zwischen Vergangenheit und Zukunft
Zu dieser Bundesreform war es 1985 nur gekommen, weil sich die Kantone zuvor nicht «freiwillig» einigen konnten. Die bereits in den 1960er-Jahren angeschobene Reform kam nicht voran, weil die vielgelobte Konkordatslösung gescheitert war und sich die FDP für die Mini-Harmonisierung mit einer Initiative stark gemacht hatte.
Diese Vorgänge sollen hier nicht aus «rein» historischen Interessen rekapituliert werden. Vielmehr sollen sie verdeutlichen, dass wir jetzt wieder in einer ähnlichen Problemlage stecken. Wird sich die Geschichte auf höherem Niveau wiederholen?
Die Bemühungen für einen weitergehenden Harmonisierungs-Schritt setzten Ende der 1990er-Jahre ein. Dabei war neben der ebenfalls gewachsenen Binnenmobilität auch die Einsicht wichtig, dass die Schulschweiz im Wettbewerb mit den grösseren Nachbarländern und angesichts der internationalen Bildungs-Harmonisierung ihre kantonalen Systeme gegenseitig angleichen sollte.
Die wiederum vernünftige Lösung, gegen die wiederum vor allem die SVP opponierte, lautete: Es braucht einen Bildungsrahmenartikel, aber nicht eine von oben – das heisst vom Bund – diktierte Reform, sondern eine mit der Chance zur vorgängigen Harmonisierung unter den Kantonen.
Der neue Bildungsartikel sah und sieht eine äussere Vereinheitlichung des schweizerischen Bildungsraumes vor.
Ein Meilenstein war die im Mai 2006 bei schändlich schwacher Stimmbeteiligung von 27 Prozent, aber mit einem sensationellen Mehr von 85,6 Prozent und dem Ja aller Kantone zustande gekommene Zustimmung zum neuen Bildungsartikel. Dieser sah und sieht noch immer vor, dass die Kantone eine äussere und innere Vereinheitlichung des schweizerischen Bildungsraumes herbeiführen sollen.
Nicht vergessen sollte man, dass Art. 62,4 dieser Verfassungsbestimmung vorsieht, dass der Bund die «notwendigen» Vorschriften erlassen kann/muss, wenn auf dem Koordinationsweg im Schulwesen keine Harmonisierung zustande kommt. Das gilt nicht nur für die äusseren Eckdaten, sondern auch für die inneren Eckwerte, umfasst also neben der Schulpflicht, dem Schuleintrittsalter, der Dauer und der Anerkennung von Abschlüssen auch die Ziele der Bildungsstufen.
Inzwischen ist einiges gegangen – und erreicht worden. Immerhin kam inzwischen die Zustimmung von zehn Kantonen (mit der Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung) zustande und konnte das «Harmos»-Konkordat in Kraft treten. Dies am schönen 1. August 2009, worin Isabelle Chassot, die damalige Präsidentin der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), zu Recht einen weiteren Meilenstein sah.
Willkommen im 21. Jahrhundert
Dann folgte die Ausarbeitung des ominösen Lehrplanes 21 und der Gang in die Vernehmlassung mit den üblichen Reaktionsvarianten. Die Kritik vor allem am Umfang des Papiers, am Detaillierungsgrad sowie an den teilweise zu hohen Anforderungen wird durchaus ernst genommen. Es fragt sich aber, ob inzwischen nicht ein schwer reparierbarer Imageschaden eingetreten ist.
Wer grundsätzlich reformfeindlich eingestellt ist, wird auch mit nachträglichen Verbesserungen nicht zu überzeugen sein. Er/Sie werden, weil grundsätzlich dagegen, sich in Einzelaspekten verbeissen. Gerade diejenige Seite, die stets das Wort vom Respektieren des Volkswillens im Munde führt, müsste dies jetzt auch im Fall der Bildungs-Harmonisierung tun und den Volksentscheid von 2006 anerkennen.
Angesichts der lauter werdenden Opposition ist es umso wichtiger, dass das Zukunftsprojekt «Lehrplan 21» von den Kräften energisch unterstützt wird, die ein den heutigen Gesellschaftsverhältnissen angepasstes Bildungswesen schaffen wollen. Dazu gehören zwei Fremdsprachen auch in der Grundschule, dazu gehört die Kompetenz-Orientierung statt blosses Memorieren, dazu gehört der Einbezug von ernst zu nehmenden Gesellschaftsfragen (neben der allerseits akzeptierten Verkehrserziehung und Instruktion im Zähneputzen auch Kompetenz im Ernährungsverhalten, Umweltschutz, Medienkonsum und in der klassischen Staatsbürgerkunde, heute politische Bildung genannt).
Überhaupt nicht dazu gehört jedoch eine weitere Theoretisierung und Bürokratisierung des Schulunterrichts!
Die ganze Gesellschaft sollte sich lernfreudig und für elementare Verbesserungen offen zeigen.
Man kann es so auf den Punkt bringen: Nicht nur die in diesen Tagen eingeschulten Kinderlein, auch die ganze Gesellschaft sollte sich lernfreudig und für elementare Verbesserungen offen zeigen. Tut sie dies nicht, wird sie früher oder später – schulisch gesprochen – «nachsitzen» müssen. Ein bescheidener Anfang in diese Richtung bestünde darin, sich überhaupt zu informieren, worum es wirklich geht, und nicht nur mit Ressentiments zu reagieren. Dazu stehen in reichem Masse leicht erreichbare Auskünfte zur Verfügung.
Dieses genaue Hinschauen ist darum nötig, weil das Harmonisierungs-Projekt mit zum Teil demagogischen Methoden diskreditiert und mit billiger Stimmungsmache eine leicht mobilisierbare Ablehnung erzeugt wird. Das erlebten wir, als 2008 im Zürcher Abstimmungskampf abgestützt auf den missverständlichen Begriff der «Einschulung» das «Chindsgi»-Obligatorium mit Abbildungen von weinenden Kindern verteufelt wurde, obwohl damit überhaupt nicht vorgeschrieben war, auf dieser Stufe bereits «Schule» abzuhalten.
Kein Abrücken vom Ziel
Ein nächster Meilenstein wird die Verabschiedung einer überarbeiteten, um 20 Prozent reduzierten Version des Lehrplanes 21 und seine Freigabe auf Ende 2014 sein. Die einzelnen Kantone entscheiden dann aber eigenständig über die Umsetzung auf das Schuljahr 2017/18. Allerdings beschloss die Regierung des Kantons Aargau gerade in diesen Tagen, die Einführung des Lehrplanes 21 um drei Jahre auf 2020/21 aufzuschieben. Das ist aber kein Abrücken vom Ziel, sondern eine Art, am Ziel festzuhalten.
Bei dieser Reform bilden die inneren, die weichen Reformen den wesentlicheren Teil. Man darf sich aber auch an die äusseren Vorteile erinnern: Ein gemeinsamer Lehrplan ermöglicht, dass die in den Kantonen anstehenden Lehrplanarbeiten gemeinsam und kostengünstiger angegangen werden und die Kantone von einander lernen können. So kann auch die Aus- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer inhaltlich harmonisiert werden. Und schliesslich wird damit auch die Grundlage für die Koordination der Lehrmittel geschaffen.
Baustellen haben auch ihre positiven Seiten: Es wird aufgebaut, und es werden Pläne verwirklicht.
Heute werden Reformvorhaben gerne mit dem Bild der Baustelle in Verbindung gebracht. Was will man damit ausdrücken? Vor allem das Unfertige und die Notwendigkeit, dass «noch» gearbeitet werden muss. Dabei könnte das Bild zu negativ erscheinen. Baustellen haben jedoch auch ihre sehr positiven Seiten: Es wird überhaupt gebaut, es wird sogar aufgebaut, und es werden Pläne verwirklicht.
Dieser Realisierungswille darf sich nicht auf den realen Bauboom – bis hin zu prächtigen Schulhäusern – beschränken, sondern soll auch dem inhaltlichen Bauen gelten. Und es ist nicht nur ein bedrücktes Müssen, es ist auch ein fröhliches Dürfen.