Guantánamo mitten in den USA

Ab März können Bürger in den USA auf blossen Terrorverdacht hin vom Militär auf unbegrenzte Zeit arrestiert werden – ohne Gerichtsverfahren. Der National Defense Authorization Act ist der Höhepunkt einer Reihe neuer Gesetze, die die Demokratie bedrohen.

Der NDAA erlaubt dem Militär, Bürger wegen blossen Terrorverdachts zu arrestieren. (Bild: Gettyimages)

Ab März können Bürger in den USA auf blossen Terrorverdacht hin vom Militär auf unbegrenzte Zeit arrestiert werden – ohne Gerichtsverfahren. Der National Defense Authorization Act ist der Höhepunkt einer Reihe neuer Gesetze, die die Demokratie bedrohen.

An seinem zweiten Arbeitstag im Januar 2009 kündigte US-Präsident Barack Obama an, er werde das auf Kuba stationierte Militärgefängnis ­Guantánamo innert eines Jahres schliessen. Er versprach, die unter ­seinem Vorgänger Bush im Namen der nationalen Sicherheit geschwächten Menschen- und Bürgerrechte wieder zu stärken. Bis heute, im Winter vor seiner Wiederwahl, ist dies Obama nicht gelungen – im Gegenteil: Unter seiner Ägide gelangt das Prinzip Guantánamo sogar noch verstärkt zur Anwendung.

Ein neues Gesetz erlaubt es dem ­Militär, auch US-Bürger unter nebulös ­definiertem Terrorverdacht ohne Anklage festzuhalten und auf unbestimmte Zeit wegzusperren – ohne Gerichtsverfahren, ohne Rechtsbeistand, ohne Berufungsmöglichkeit. Das jahrhundertealte Rechtsprinzip «Habeas Corpus», das jeden Menschen vor willkürlicher Haft schützt, wird so über Bord geworfen. Obama hat den umstrittenen National Defense Authorization Act (NDAA) am Silvester unterschrieben, im März soll das Gesetz in Kraft treten.

Bürger an die Heugabeln

«Dieses Gesetz sollte alle Bürger mit Heugabeln in der Hand aufspringen lassen», schreibt der Blogger Alton Lu in der Internetzeitung «Huffington Post». Die Massen haben die Heugabeln bisher in den Ställen gelassen, doch zahlreiche Autoren, Juristen sowie Bürger- und Menschenrechts­organisationen protestieren mit der Feder gegen das neue Gesetz; Peti­tionen wurden eingereicht, und Mitte Januar hatten einige Tausend Personen in Washington gegen Guantánamo demonstriert.

Für den republikanischen Ex-Prä­sidentschaftskandidaten Ron Paul weist das neue Gesetz «den Weg in Richtung ­Tyrannei», und der ame­rikanische Journalist, Buchautor und Pulitzer-Preisträger Chris Hedges hat sogar eine ­Klage gegen Barack Obama und US-Vertei­di­gungs­minister Leon Panetta eingereicht.

Auf der Website «Truthdig» hat Hedges seine An­klageschrift veröffentlicht, dazu kommentiert er in seiner ­wöchentlichen Kolumne: «Dieses Gesetz ist ein katastrophaler Schlag gegen bürger­liche Freiheiten. Es hebelt fun­damentale rechtsstaatliche Grundsätze aus. Wir können das Wort ‹Demokratie› nicht mehr verwenden, um unser poli­tisches System zu beschreiben. Wenn dieses Gesetz nicht aufgehoben wird, so werden wir uns nicht mehr von irgendeiner schäbigen Militärdiktatur unterscheiden.»

Bürgerrechte mit Füssen getreten

Amerikaner, die in Militärdiktaturen oder in Polizeistaaten gelebt haben, bestätigen Hedges Einschätzung. «Was ich hier sehe, erinnert mich an die Orte, in denen ich aufgewachsen bin», sagt etwa Ramzi Kassem. «Die USA sind zwar noch kein autoritäres Regime, aber erste Züge eines solchen sind erkennbar.» Kassem ist im Nahen Osten aufgewachsen; heute ist er Rechtsprofessor an der City University of New York und setzt sich als Anwalt seit sieben Jahren für zahlreiche Inhaftierte in Guantánamo ein.

Er habe nicht geglaubt, dass Prä­sident Obama dieses Militär­gefängnis schliessen würde, sagt Kassem, aber er sei erstaunt, dass der Demokrat Obama das Werk des Republikaners Bush sogar noch weitertreibe und den Rechtsstaat weiter schwäche. «Am schlimmsten ist, dass Dinge, die man normalerweise mit einem Militär­regime assoziiert, nun in den USA zunehmend akzeptiert werden.»

Vertrauen nützt wenig

Es tröstet die Protestierenden wenig, dass Obama dieses Gesetz unter Druck des Kongresses widerwillig unterschrieben und mit einem Statement ergänzt hat. Darin verspricht er, es werde unter seiner Regierung nicht gegen US-Bürger eingesetzt. Doch abgesehen davon, dass Obama schon viele Versprechen gebrochen hat, nützt auch das grösste Vertrauen in ihn wenig: Schon der nächste Präsident kann dasselbe Gesetz anders interpretieren – und fleissig anwenden.

Für besonders beun­ruhigend hält Hedges deshalb die schwammige Definition der Sicherheits­direktion für Terrorismus: Diese halte eine Person bereits für untersuchenswert, «wenn ihr einige Finger fehlen, wenn sie wasserfeste Munition besitzt, wenn sie Waffen besitzt oder wenn sie einen Essensvorrat für mehr als eine Woche zu Hause angehäuft hat».

662 Milliarden Militärbudget

Warum hat Obama nicht sein Veto gegen den NDAA eingelegt? Unter anderem wohl auch, weil das Militärbudget 2012 im mehrere hundert Seiten umfassenden Gesetz mitbewilligt wird: 662 Milliarden Dollar – das ist mehr, als alle anderen Länder der Welt zusammengenommen für ihre Armeen ausgeben.

«Dazu kommt, dass der politische Druck vor den Wahlen so gross ist», meint Kassem. Die Regierung ­Obama und die Demokratische Partei wollen seiner Einschätzung nach unbedingt verhindern, dass ihnen die Republikaner im laufenden Wahlkampf vorwerfen könnten, sie setzten die natio­nale Sicherheit aufs Spiel. «Die Politik der Angst ist in wirtschaftlichen Krisenzeiten für viele Politiker der einfachste Weg zu punkten», sagt Kassem.

Tatsächlich betonen die meisten Kongressabgeordneten, die für den NDDA gestimmt haben, wie gross die Gefahr terroristischer Anschläge weiterhin sei. Das Gesetz erleichtere es, Al-Qaida-Mitglieder, Taliban und andere Terroristen festzunehmen, zu verhören und zu verfolgen, sagt etwa der republikanische Abgeordnete Allen West.

CIA warnt vor neuem Gesetz

Gegner des Gesetzes weisen wiederum darauf hin, dass Osama bin Laden tot und das Terrornetzwerk Al Qaida geschwächt sei. FBI, CIA und etliche Strafverfolgungsbehörden waren bemerkenswerterweise gegen den NDAA, weil sie im neuen Gesetz weniger Vorteile als Nachteile für die nationale ­Sicherheit sehen.

Chris Hedges vermutet deshalb, dass eigentlich vor allem die übermächtigen Grosskonzerne und Finanzinstitute dahinterstecken. «Ich habe den Verdacht, dass dieses Gesetz verabschiedet wurde, weil viele amerikanische Unternehmer sich nicht allein darauf verlassen wollen, dass die Polizei sie vor Bürgerbewegungen wie Occupy beschützt. Sie wollen imstande sein, die Armee zu ­rufen. Jetzt können sie das.» So drastisch möchte es Kassem nicht formu­lieren. Doch sei bekannt, dass viele Firmen wirtschaftlich vom «Krieg gegen den Terror» profitierten.

Angriffe auf die Demokratie

Der National Defense Authorization Act ist der vorläufige Höhepunkt einer ganzen Reihe bürgerrechts- und demokratiefeindlicher Massnahmen seit dem Anschlag auf das World Trade Center im September 2001. Der von Bush erlassene Patriot Act zum Beispiel ermächtigt den Staat, die Bürger ohne richterlichen Beschluss zu überwachen: Ohne Bewilligung dürfen Wohnungen durchsucht, Telefone abgehört, E-Mails gelesen werden. Töd­liche Drohnenattacken werden von ­Obama um ein Vielfaches öfter eingesetzt als von seinem Vorgänger.

Überhaupt verlagert sich die Macht immer stärker von der Judikative und Legislative hin zur Exekutive. Die bekannte Kulturkritikerin Naomi Wolf warnt vor «diesen dramatischen Angriffen auf die Demokratie» und zieht Parallelen zu den Anfängen des Dritten Reichs in Deutschland. Hedges spricht bereits vom beginnenden Totalitarismus. Und Kassem warnt: «Die Erosion des Rechtsstaats passiert immer Schritt für Schritt. Wenn wir die Geschichte ernst nehmen, müssen bei uns alle Alarmglocken schrillen.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 24.02.12

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