«Haben Sie schon unterschrieben?» – der schwierige Umgang mit Volksinitiativen

Eine Initiative jagt die nächste. Eigentlich wäre diese Mitsprachemöglichkeit zum Einbezug breiter Bevölkerungsschichten gedacht. Doch als Propagandainstrument führt sie zunehmend zur Spaltung.

Und noch eine Initiative – das Volksrecht dient zunehmend Parteien zur Profilierung. (Bild: Peter Schneider)

Volksinitiativen dienen heute als Propagandainstrumente im permanenten Wahlkampf. Eine Einschränkung dieser Mitsprachemöglichkeit ist kaum realistisch. Nötig bleibt aber mehr Verantwortungsbewusstsein beim Einsatz von Volksbegehren.

Wie dunkle Wolken am direktdemokratischen Himmel ziehen Volksinitiativen der SVP auf. Zurzeit steht ein Vorstoss im Vordergrund, der Landesrecht in jedem Fall über Völkerrecht stellen will; Völkerrecht, dem notabene von schweizerischer Seite in verschiedenen Formen zugestimmt worden ist.

Das Hauptquartier der rechtsnationalen Partei hat derart viele Initiativen in seinem Arsenal, dass es intern Rangeleien um die Rangfolge gibt. Die skandalöse Asylinitiative und irgendwelche Durchsetzungsinitiativen mussten sich eine Zurückstufung zugunsten der Landesrechtinitiative gefallen lassen.

Vorschläge ohne Mehrheitschancen

Die SVP braucht beziehungsweise missbraucht in ihrem permanenten Wahlkampf die Volksinitiativen als Propagandamaschinen. 2007 und 2011 wurden auf den Nationalfeiertrag am 1. August hin alle Haushalte mit Unterschriftenbögen (einmal für die Ausschaffungsinitiative, das andere Mal für die Masseneinwanderungs-Initiative) eingedeckt. Das setzt erhebliche finanzielle Mittel voraus. Einige dieser Vorstösse, von denen sich die Partei mobilisierende Wirkung verspricht, fallen nicht zufällig in das Vorfeld der eidgenössischen Wahlen. So könnte die SVP-Durchsetzungsinitiative zur Ausschaffung krimineller Ausländer möglicherweise im Juni 2015, vier Monate vor den Wahlen, zu Abstimmung kommen.

Das Volksrecht wird von dieser Volkspartei pervertiert: Während ursprünglich Parteien nur spontane Ad-hoc-Gruppierungen zur Meinungsbildung in Wahlen und Sachabstimmungen waren, pflegt die SVP vor allem ihren Eigenwert. Kandidaturen und Vorlagen werden in den Dienst der Parteistärkung gestellt. Das führt zu Initiativen, von denen man sich – auch mit den Mitteln der Demagogie – am meisten Zuspruch verspricht.

Die SVP führt diesen Trend zwar an, sie ist Spielmacherin, die anderen Parteien ziehen freilich nach: die FDP hatte es 2012 glücklos mit der Antibürokratie-Initiative versucht, dagegen ist es der CVP im gleichen Jahr gelungen, rechtzeitig eine Familieninitiative in den Ofen zu schieben. Auch die Linke, SP und Gewerkschaften, markieren mit Vorschlägen ohne Mehrheitschancen ihre Präsenz auf dem Markt der Volksinitiativen, 2013 zum Beispiel mit einer Initiative zur nationalen Besteuerung von «Millionen-Erbschaften».

Unterschriftensammeln ist schwieriger geworden – und einfacher

Früher war es einfacher, Unterschriften zu sammeln. Seit wir mehrheitlich auf dem Korrespondenzweg abstimmen, kann man die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr vor den Lokalen abfangen. Und wer an Samstagen irgendwo auf der Strasse sammelt, stösst in unserer mobilen Gesellschaft auf viele Ausserkantonale, Bewohner ohne politische Rechte – oder ohne politisches Interesse.

Andererseits stehen der politischen Werbung heutzutage wesentlich mehr Möglichkeiten zur Verfügung als im Moment der Einführung der direktdemokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten. Geplante Volksinitiativen werden zum Teil recht locker unterstützt, weil man sich mit der Unterschrift noch nicht festlegt und sich sagen kann, dass es ja nicht schlecht sei, «wenn einmal darüber diskutiert wird». Zugleich wird es immer schwieriger, genug Leute zu finden, die bereit sind, Unterschriften zu sammeln. Dies hat da und dort schon zu demokratiepolitisch höchst problematischen Aktionen geführt, dass bis zu fünf Franken pro gesammelte Unterschrift bezahlt wurden.

Die nötige Unterschriftenzahl kann handkehrum heute leichter erreicht werden, weil die Zahl der Stimmberechtigten schneller gewachsen ist als die Zahl der erforderlichen Unterschriften. Nur einmal, 1977, wurde zögerlich nach der Einführungen des Frauenstimmrechts von 1971 und der damit verbundenen Verdoppelung der Zahl der Stimmberechtigten die Minimalzahl der Unterschriften für Volksinitiativen von 50’000 auf 100’000 angehoben.

«Siegreiche Verlierer»

Waren 1891 bei der Einführung des Initiativrechts die Unterschriften von 7,6 Prozent der Stimmberechtigten nötig, waren es im Jahr 2000 nur noch 2,1 Prozent. Und heute braucht es anteilsmässig noch weniger.

Mit Stand Mai 2014 kann man festhalten: 310 Initiativen kamen inzwischen zustande, abgestimmt wurde nur über 189, und lediglich 20 wurden vom Volk angenommen, knapp 11 Prozent. Machen wir uns da nicht Illusionen bezüglich unserer direktdemokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten? Allerdings: Auch abgelehnte Initiativen haben ihre Wirkung. Zum einen führen sie immer wieder zu erfolgreichen Gegenvorschlägen mit abgeschwächten Regelungen. Zum anderen gibt es die Tendenz, auch knapp unterlegene Vorlagen politisch zu berücksichtigen, was die «siegreichen Verlierer» zuweilen auch lautstark einfordern. Damit erfüllt die Initiative nicht nur die Ventilfunktion, sie setzt auch politische Signale.

Bei der Schaffung des modernen Bundesstaates war man nicht der Meinung, dass die Volksinitiative unbedingt dazu gehören müsse.

Schaut man sich die zeitliche Verteilung der Volksbegehren an, fällt die rapide Zunahme in den letzten Jahrzehnten auf: Von den gegen 190 zur Abstimmung gebrachten Initiativen sind der grösste Teil, das heisst rund 170, erst seit 1966 eingereicht worden.

Darum wäre es naheliegend, den ehemaligen Seco-Staatssekretär und heutigem Präsidenten der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft Jean-Daniel Gerber zu unterstützen, der in der NZZ für eine Erhöhung der Unterschriftenzahl eintrat. (Die Entgegnung des Aargauer Staatsschreibers Peter Grünenfelder finden Sie hier.) Doch eine Erhöhung der erforderlichen Unterschriften könnte ihrerseits nur mit einer Volksinitiative (und kaum mit einer parlamentarischen Initiative) angegangen werden. Sie fände mit Sicherheit keine Mehrheit.

Und selbst wenn gäbe es keine Garantie, dass dadurch ausgerechnet diejenigen Initiativen auf der Strecke blieben, die uns am meisten Kummer machen. Denn die SVP-Maschinerie hat kein Problem, auch grössere Unterschriftenzahlen zusammenbringen.

Verführbares Volk?

Als der moderne Bundesstaat geschaffen wurde, war man mitnichten der Meinung, dass die inzwischen als urschweizerisch verstandene Volksinitiative unbedingt dazu gehören müsse. Und als man nach 1872 die Einführung auf eidgenössischer Ebene (als Übernahme kantonaler Reformen) diskutierte, gab es nicht nur beschwingte Bejahung. Der grossbürgerliche Unternehmer Alfred Escher sah in ihr nur eine «Modetorheit», welche den «Volksverführern» ein Instrument in die Hand gebe. Zudem verfüge das Volk – im Gegensatz zu Regierung und Parlament – nicht über die «nöthige Intelligenz».

Nicht zufällig war es die nationale Rechte, die 1893 als Erste das neue Instrument nutzte und eine Mehrheit für die antisemitisch motivierte Initiative für ein Schächtverbot zustande brachte.

Auch der schweizerische Nationalschriftsteller Gottfried Keller war skeptisch. In seinem Roman «Martin Salander» liess er 1886 eine Figur auftreten, die meint, dass «im Halbdunkel eines Bierstübchens» Millionen kostende Vorlagen fix und fertig ausgeheckt werden könnten. Volksabstimmung gibt es erst seit 1891. Damals wurde die Volksinitiative noch als «schwer auszusprechendes Fremdwort» bezeichnet und als Agitationsinstrument eingestuft, mit dem man das Volk «in beständige Aufregung» versetzen könne und selbst bei Niederlagen als willkommene Reklame wirke, wie die NZZ meinte.

Die spaltende Wirkung der Mitsprachemöglichkeit

Diese negativen Erwartungen sollten sich mit der ersten eingereichten und sogleich erfolgreichen Initiative bestätigen: Nicht zufällig war es die nationale Rechte, die 1893 in einer Zeit vermehrter Einwanderung osteuropäischer Juden als Erste das neue Instrument nutzte und eine Mehrheit für das antisemitisch motivierte Begehren des Schächtverbots zustande brachte.

Das direktdemokratische Instrument der Volksinitiative geniesst einen viel zu positiven Ruf. Man kann sich damit auch  gegenüber anderen Ländern abheben, die dieses Privileg nicht haben. Man schreibt ihm abgesehen von der konkreten Mitsprachemöglichkeit eine Integrationswirkung zu, obwohl von ihr zugleich auch destruktive, spaltende Wirkung ausgeht.

Wem reichen wir das Messer?

Berücksichtigt man die Stimmbeteiligung, dann kann wie im Fall der Masseneinwanderungsinitiative eine Minderheit von 28 Prozent der Stimmberechtigten mit einer zum Teil rabiaten bis gedankenlosen und im doppelten Sinn verantwortungslosen Haltung die reflektierenden Instanzen Bundesrat und Parlament ausschalten.

Kommt hinzu, dass mit solchen Volksbegehren heutzutage eine aufwendige Bearbeitungsmaschinerie in Verwaltung, Parlament und im Abstimmungsprozess in Gang gesetzt wird – nicht nur mit ernsthaften, sondern auch mit fragwürdigen Anliegen. Die Demokratie erlaubt jedoch nicht, vorweg zu bestimmen, welche Initiativen berechtigt sind und welche nicht. Es bleibt nur der Appell, mit diesem Recht haushälterisch umzugehen.

An der heutigen Nutzung der Volksinitiative kann man, muss man vieles kritisieren, aber nicht das Instrument als solches. Das ist wie bei einem Messer: Es kommt drauf an, was man damit macht. Darum sollten wir uns sorgfältig überlegen, wem und wozu wir das Messer der Volksinitiative zur Verfügung stellen, zunächst im Sammelvorgang mit unserer Unterschrift und dann im Urnengang mit unserem Stimmzettel.

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