Hängt sie höher!

Eine vernünftige Debatte über unser Justizsystem ist momentan nicht möglich. Dabei gäbe es einiges zu bereden.

Der Einzelfall verändert das gesamte System – ein gefährliches Spiel. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Eine vernünftige Debatte über unser Justizsystem ist momentan nicht möglich. Dabei gäbe es einiges zu bereden.

18’702 and counting.

18’702 Menschen unterstützen eine Facebook-Gruppe aus der Romandie mit dem Titel «Peine de mort pour les criminels dangereux récidivistes». ­Illustriert ist die Seite mit einem Fahndungsbild von F. A., dem mutmasslichen Mörder einer Genfer Sozialtherapeutin, und einem Henkersstrick. Der letzte Eintrag der Seite appelliert an die Unterstützer der Todesstrafe: «Stellt euch vor, jeder von uns würde zehn Unterschriften für die Wiedereinführung der Todesstrafe sammeln. Dann könnte die Schweiz ernsthaft über diese Frage diskutieren.»

Im Umfeld der Anhänger der Todesstrafe tummeln sich auch manche Politiker, vornehmlich ­solche der SVP. Urheber der Facebook-Seite ist der Walliser SVP-Grossrat und Anwalt Jean-Luc Addor, der damit einen «Versuchsballon» steigen liess, wie er dem «Le Matin» sagte. Xavier Schwitzguébel, ­Vizepräsident der jungen SVP Schweiz, hat auf ­seiner eigenen Facebook-Page offensiv Werbung für die Initiative gemacht und gegenüber Westschweizer Medien wiederholt betont, dass er in gewissen Fällen, gerade auch im aktuellen, für die Todes­strafe sei.

Die Stimme der Empörten

Auf der nationalen Bühne geht die SVP nicht so weit. «Obwohl ich die Todesstrafe ablehne, verstehe ich, wenn die Leute sie fordern. Es ist ein Zeichen der Machtlosigkeit. Die Bevölkerung hat genug. Sie ist ohnmächtig.» Es ist Natalie Rickli, die diese Sätze in der Wandelhalle des Bundeshauses sagt. Die Zürcher Nationalrätin der SVP ist in diesen Tagen einmal mehr zur Stimme dieser ohnmächtigen Bevölkerung geworden. Ihr Facebook-Account wird überschwemmt von empörten Kommentaren, Hunderte Mails habe sie zum Thema bekommen.

In der nächsten Woche wird ein älterer Antrag von Rickli im Nationalrat behandelt, der die Abschaffung von Hafturlauben für Verwahrte fordert. Gleichzeitig wird Rickli einen Vorstoss einreichen, mit dem sie die sofortige Verwahrung von Sexualstraftätern nach einem Rückfall erreichen will. Es ist ein realpolitischer Kompromiss, wie Rickli selber sagt. Sie selber würde lieber härter durchgreifen. «Man muss endlich begreifen: Gewisse Menschen sind nicht therapierbar. Die Leute fragen sich zu Recht, wie viele Opfer es noch geben muss, bis die Politik endlich handelt.»

Die Eier abschneiden

Das fragt sich auch This Jenny, SVP-Ständerat aus dem Kanton Glarus, der am Sonntagabend auf Tele Züri gezeigt hat, wie speziell das sein kann, wenn ein besonders «volksnaher» Parlamentarier eine nationale Bühne erhält. «Dem sollte man die Eier abschneiden», meinte Jenny und wird dafür landauf, landab bejubelt. In einer Umfrage von «20 Minuten» stellten sich 80 Prozent der über 25 000 Teilnehmer hinter die Aussage des Ständerats. «Vielleicht hätte ich mich etwas höflicher aus­drücken können. Aber meine Meinung ist es ­immer noch», sagt Jenny heute.

Der Ständerat ist ein Mann des Stammtisches, das sagt er auch selber von sich. Und Jenny redet wie ein Mann des Stammtisches. Er glaubt nicht – gleich wie Kollegin Rickli – an die Therapierbarkeit von Sexualstraftätern. «Wenn das in ­einem Menschen drinnen ist, dann ist es drinnen. Das ist bei Wilderern genau gleich.»

Jenny würde dieser Sorte von Tätern nicht nur die Eier abschneiden, er würde sie auch anders ­rannehmen. Die Therapien abschaffen und durch die Arbeit in einem Steinbruch ersetzen. «Unser ganzes System hat ein Problem. Fertig mit ­Therapien. Sollen sie täglich zehn Stunden lang Steine klopfen! Harte Arbeit, nichts anderes.» – «Sie wollen Arbeitslager wie in Russland, Herr ­Jenny?» – «Warum nicht!»

Es muss endlich etwas geschehen

Die Debatte nach Tragödien wie in Genf oder dem Fall «Carlos», bei dem ein jugendlicher Straf­täter eine kostspielige Einzeltherapie erhielt, wird von Figuren wie Rickli, Schwitzguébel und Jenny dominiert. Sie alle – und mit ihnen die Mehrheit der schäumenden Kommentatoren auf den Newssites – eint ein Gedanke: Es muss endlich etwas geschehen. Jetzt, sofort.

Die Debatte läuft immer gleich: Ein System, das so etwas zulässt, muss falsch sein.

Es ist die übliche Reaktion nach einer schrecklichen Tat. Danach muss ein System, das so etwas zulässt, falsch sein. Also muss man das ganze System ­ändern: Die Genfer Regierung hat nach dem Mord an der Sozialtherapeutin sämtliche Freigänge ­gestoppt und die Kontrolle über die Anstalt La Pâquerette übernommen. Der Waadtländer Kantonsrat hat diese Woche einstimmig ein Postulat ver­abschiedet, um dem Amt für Strafvollzug mehr Kompetenzen ­einzuräumen. Der Zuger Sicherheitsdirektor Beat Villiger (CVP) fordert via «Sonntagsblick», dass für eine grössere Einheitlichkeit die drei Schweizer Strafvollzugskonkordate zusammengelegt werden sollen. Hans-Jürg Käser, Präsident der Kantonalen Konferenz der Justiz- und Sicherheitsdirektoren, erwartet von den Gerichten «mehr Verwahrungen und weniger Massnahmen», wie er im «Tages-Anzeiger» sagte. Der katholische Pfarrer Franz Sabo schliesslich will «mehr ­Opfer- und weniger Täterschutz», sagt er in der BaZ.

Und im Nationalrat wird ganz konkret die Verschärfung des Jugend- und Erwachsenenstrafrechts diskutiert. Eine Motion von Hans Fehr (SVP, ZH), die bei schweren Verbrechen die Beurteilung von jungen Straftätern nach dem Erwachsenenstrafrecht verlangt und generell «massiv» höhere Maximalstrafen als die heute geltenden vier Jahre fordert, ist im Nationalrat praktisch schon durch: 110 Unterschriften hat Fehr für seinen Vorstoss gesammelt, wie der «Blick» berichtete. Auch der Vorstoss von Natalie Rickli hat gute Chancen – sie hat Unterstützer bis weit ins linke Lager.

Die Besonnenen sind kaum zu hören

Die besonnenen Stimmen sind in dieser schrillen Debatte kaum zu vernehmen. Stimmen, die wie der Zürcher SP-Nationalrat Daniel Jositsch beispielsweise feststellen, dass ein repressiver Vorstoss wie jener von Hans Fehr eher zu mehr als zu weniger Kriminalität führe.

Oder Stimmen, die darauf hinweisen, dass ausgerechnet unter Bundesrat Christoph Blocher (SVP) das Opferhilfegesetz verwässert wurde. Die Höchstgrenzen für Schmerzensgeld wurden dabei in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich nach ­unten gesetzt: Wer Opfer einer Straftat wird, erhält immer weniger Schmerzensgeld, in der Zwischenzeit sind es noch durchschnittlich 7330 Franken.

Oder auch Stimmen wie jene des grünen Nationalrats Ueli Leuenberger, der als Genfer in einer speziellen Situation steckt, weil die Tragödie in ­seinem Heimatkanton stattgefunden hat. Er ­plädiert dafür, zuerst zu überprüfen, ob die vorhandenen Richtlinien richtig umgesetzt worden seien, und erst in einem zweiten Schritt an den Richtlinien selber zu schrauben. «Es muss zuerst sauber abgeklärt werden, was tatsächlich falsch lief. Erst dann können wir über Massnahmen nachdenken.» Man dürfe auch nicht vergessen, dass der Strafvollzug seit den 2000er-Jahren immer besser funktioniere, die Rückfallquote zurückgegangen sei und das System eine eigentliche Erfolgsstory darstelle.

Für einen Genfer ist das eine heikle Aussage. Als der grüne Fraktionschef Antonio Hodgers (auch er ein Genfer) auf Facebook eine missverständliche Aussage zum Fall der getöteten Therapeutin machte, wurde er vom Publikum und von Ratskollegen aus dem Stadtkanton öffentlich niedergemacht.

Oder Stimmen wie jene von Dominik Lehner, dem Leiter Strafvollzug im Kanton Basel-Stadt und Präsident der Konkordatlichen Fachkommission zur Beurteilung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern Nordwest- und Innerschweiz. Lehner sagte diese Woche in der «Basler Zeitung» (online nicht verfügbar): «Ich begrüsse die aktuelle Diskussion.» Aber leider gehe die Debatte in eine falsche Richtung. Weil sich oft nur Hardliner und Experten meldeten, die ihre spezifischen ­Modelle hervorheben wollten.

Ausserhalb der Debatte

Seltsam ausserhalb stehen bei dieser Debatte die Menschen der Praxis. Menschen, die im Strafvollzug arbeiten, Täter beurteilen, Täter therapieren, Täter wegsperren. Menschen wie Marc Graf, Direktor der Forensisch-Psychiatrischen Klinik in Basel. Er versteht die Wut des Stammtisches, die Empörung und Trauer in der Bevölkerung. «Das ist eine ganz natürliche Reaktion nach einem Vorfall wie in Genf.» Und diese sei typisch für unsere Zeit und unsere Gesellschaft. Studien weisen auf die umgekehrte Korrelation zwischen dem Sicherheitsempfinden der Bevölkerung und der tatsächlichen Kriminalitätsrate in hochentwickelten Ländern hin. Heisst: Je sicherer eine Gesellschaft de facto ist, desto mehr fürchtet sie sich vor aussergewöhnlichen Ereignissen.

«Wir haben einen inkompetenten Umgang mit schweren Ereignissen, die sehr selten oder sehr weit weg sind. Schwere Autounfälle, Flugzeugabstürze, Morde», sagt Graf. Die Angst, bald vor einem leeren Teller zu sitzen, aus dem vorvorletzten Jahrhundert ist der nachweislich irrationalen Angst vor Ereignissen gewichen, die mit grosser Wahrscheinlichkeit nie eintreffen.

Eine sachliche Diskussion

Das Ziel des Forensikers ist darum ein simples: eine sachliche Diskussion. Ohne sich über die Empörung am Stammtisch lustig zu machen, aber in einer dem Thema angemessenen Differenziertheit.

In einer solchen Debatte muss auch der Strafvollzug selber durchleuchtet werden. Nach der Genfer Tragödie wurde von mehreren Stellen auf den unterschiedlichen Vollzug in der Deutsch- und der Westschweiz hingewiesen.

Karin Keller-Sutter, Ständerätin für die FDP und frühere Justizdirektorin des Kantons St. Gallen, wurde in einem Interview mit dem «St. Galler Tagblatt» gefragt, ob ein solcher Fall wie in Genf in der Deutschschweiz unmöglich wäre. Sie antwortete: «Nein, so weit kann man nicht gehen. Auch in der Deutschschweiz sind Fehlbeurteilungen möglich. Aber es gibt eine klare Diskrepanz zur Westschweiz. Bei uns wurde politisch durchgesetzt, dass die öffentliche Sicherheit klar vor den individuellen Interessen des Straftäters kommen muss.»

Unterschied zwischen West und Ost

Tatsächlich gibt es konkrete Unterschiede im Strafvollzug zwischen der Romandie und der Deutschschweiz, was auch mit dem Mord an Pasquale Brumann in den frühen 1990er-Jahren zu tun hat. Seither verschärften die Deutschschweizer Kantone ihren Vollzug kontinuierlich. So erfolgt beispielsweise seit 2007 die Beurteilung von ­gefährlichen Straftätern in der Deutschschweiz durch eine Fachkommission des Strafvollzugkonkordates.

In der Romandie sind immer noch die Kantone zuständig. Auch gibt es einen Unterschied in der Therapierung von Straftätern. In der Romandie wird eher ein psychoanalytischer Ansatz verfolgt (nach dem Vorbild Frankreichs), während in der Deutschschweiz Täter nach einem eher verhaltenstherapeutischen Ansatz behandelt werden (nach dem Vorbild Deutschlands und des angelsächsischen Raumes).

Nationale Standards

Das habe unter anderem konkrete Auswirkungen auf den Informationsfluss zwischen den verschiedenen Institutionen und auch innerhalb von ihnen, sagt Marc Graf. «In der Deutschschweiz hat sich die Haltung durchgesetzt, dass bei richterlich angeordneten Therapien die ärztliche Verschwiegenheit nicht mehr eingehalten werden muss und Informationen an die Behörden und Gerichte weitergegeben werden können. In der Romandie sind die Ärzte primär dem Patienten verpflichtet.» Dabei sei weder das eine noch oder das andere System besser, extreme Auswüchse gebe es in beiden. Wenn ein Täter in der deutschen Schweiz beispielsweise derart gläsern werde, dass er umso mehr versuche, seine Betreuer zu täuschen. Oder wenn – das andere Extrem – eine Strafanstalt in der Romandie keine Ahnung hat, wie gefährlich ein neu überstellter Häftling tatsächlich ist.

«Wir müssen an unseren Standards arbeiten», sagt Graf, «die müssen in bestimmten Bereichen in der ganzen Schweiz einheitlich sein.» Standards bei der Beurteilung von gefährlichen Straftätern, Standards bei der Weitergabe von wichtigen Informationen. So brauche es beispielsweise dringend eine gesamtschweizerische Vollzugsplanung: Neue Angebote für Therapien müssten sich primär am konkreten Bedarf und nicht an der Attraktivität für den Anbieter ausrichten.

Die Gesellschaft läuft Gefahr, uralte Werte der Tagesaktualität zu opfern.

Ereignisse wie in Genf dürften aber nicht dazu führen, das ganze System infrage zu stellen. Beispielsweise im Bereich der Therapien. «Wir sind weder therapiehörig noch therapiegläubig. Und ja, wir wissen, dass gewisse Menschen nicht therapiert werden können und kommunizieren dies den Behörden und Gerichten in aller Klarheit», sagt Graf. Tatsache sei aber, dass die Rückfallgefahr von Sexualstraftätern mit Therapien nachweislich reduziert werde. Eine Studie aus Deutschland hat vor zehn Jahren gezeigt, dass die Wiederverurteilungsrate bei entlassenen Sexualstraftätern bei 20 Prozent liegt. Frank Urbaniok, Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich, hat daraufhin in einer weiteren Studie aufgezeigt, dass diese Rate im Zürcher Vollzug mit Therapien um 80 Prozent gesenkt werden kann. «Nirgends erfährt man mehr über Täter als in einer Therapie. Es sind Informationen, die wir zu seiner Beurteilung brauchen.»

Es stimme denn auch nicht, dass der Strafvollzug insgesamt lascher geworden sei. Dass Richter nach der Annahme der Verwahrungsinitiative mehr Massnahmen als Verwahrungen aussprechen würden – wie das Kritiker jetzt bemängeln –, sei nachvollziehbar und von allen Experten so vorausgesagt worden. Nur: Ein Grossteil dieser ursprünglich beschlossenen Massnahmen würde in den nächsten Jahren wohl in eine Verwahrung umgewandelt. Graf: «Die Therapeuten sind extrem vorsichtig geworden. Niemand will in die Schlagzeilen geraten.»

Die Werte verlieren

Es sind die schrillen Schlagzeilen, die die Debatte beherrschen. Noch dringt Graf mit seiner Bitte nach einer sachlichen Debatte nicht durch. Stattdessen sind wir als Gesellschaft dazu bereit, «aufgrund der Tagesaktualität jahrtausendealte Werte aufzugeben», wie es Graf ausdrückt. Schon die Assyrer in ihrer Hochblüte und später auch die Römer kannten unterschiedliche Formen der Schuldfähigkeit und unterschiedliche Formen der Bestrafung. «Wir müssen uns dagegen wehren, dass wir diese hart ­erkämpften Errungenschaften unserer Empörung opfern», sagt Graf. Und: «Wir müssen das aushalten.»

Erst danach, erst wenn die erste Empörung abgeklungen ist, wenn die «abgeschnittenen Eier» von This Jenny, die russischen Straflager und die unerträglichen Forderungen nach der Todesstrafe ins Nirwana der Medien-Aufreger eingegangen sind, erst dann kann man sich daran machen, die tatsächlichen Probleme zu lösen.

Quellen

Artikel aus dem «Le Matin» und von der «Tribune de Genève» über die Anhänger der Todesstrafe auf Facebook.

Antrag von Natalie Rickli (SVP, ZH) zur Streichung des Hafturlaubs für verwahrte Täter.

«Die Eier abschneiden», Ständerat This Jenny und seine umstrittene Aussage auf «Tele Züri».

Der «Blick» über die Lex Carlos.

Interview im «St. Galler Tagblatt» mit Karin Keller-Sutter über den unterschiedlichen Strafvollzug in der Deutschweiz und der Romandie.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 20.09.13

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