Hamid: Ein Analphabet aus Afghanistan ist Klassenbester in Basel

Im Wohnheim der Sozialfirma B2 finden Jugendliche, die alleine geflüchtet sind, eine vorübergehende Heimat. Sie führen ein Leben zwischen Schule, Ämtliplan, gemeinsamem Mittagessen und dem bangen Warten auf den Asylentscheid.

Hamid und seine Klassenkameraden zeigen sich auf der Weltkarte gegenseitig, woher sie kommen.

(Bild: Eleni Kougionis)

Im Wohnheim der Sozialfirma B2 finden Jugendliche, die alleine geflüchtet sind, eine vorübergehende Heimat. Sie führen ein Leben zwischen Schule, Ämtliplan, gemeinsamem Mittagessen und dem bangen Warten auf den Asylentscheid.

Es ist halb 8 Uhr morgens und der Staubsauger läuft bereits. Hamid* räumt vor der Schule noch sein Zimmer auf, während seine Kollegen den Gang wischen und die Küche putzen. Die Morgen im Wohnheim der Sozialfirma B2 sind geschäftig, jeder der zehn jugendlichen Asylsuchenden hat ein dichtes Tagesprogramm vor sich. 

Wir befinden uns in einem flachen Hinterhaus im Hegenheimer-Quartier, unweit des Burgfelderplatzes. Hier betreibt B2 seit Jahren ein betreutes Wohnangebot für junge Männer. Während sich die ursprüngliche Klientel hauptsächlich aus straffälligen Jugendlichen zusammensetzte, werden die Zimmer seit einigen Monaten von sogenannten UMA bewohnt. Die Abkürzung geht leicht über die Lippen, doch dahinter verbergen sich schwierige bis tragische Schicksale: UMA ist Amtsdeutsch für «Unbegleitete minderjährige Asylsuchende».

Hamid und seine Mitbewohner waren zum Teil monatelang unterwegs. Ohne Eltern oder andere Bezugspersonen, den Schleppern, Soldaten und Polizisten wehrlos ausgeliefert. Sie kommen aus Syrien, dem Iran, aus Afghanistan. Und jetzt müssen sie los. Das Tram fährt gleich, die Schule ruft.

In Afghanistan konnte Hamid nie eine Schule besuchen, trotzdem ist er Klassenbester.

Hamid macht so rasante Fortschritte, dass er im Sommer in die Integrationsklasse wechseln kann. «Er hat solche Freude am Lernen, das muss gefördert werden», sagt Hofmann. Also lässt sie Hamid am PC Texte tippen, die sie ihm diktiert. Die anderen Schüler füllen währendessen in ihren Alphabetisierungsbüchern Übungen aus. Als Nächstes will sie ihm eine Bibliothekskarte organisieren. «Damit er dort den Computer benutzen und Bücher ausleihen kann.» Ich frage ihn, wie es ihm gelungen ist, so schnell Deutsch zu lernen. «Ich lese sehr gerne», sagt Hamid. Er beherrscht Deutsch inzwischen besser als seine Muttersprache, zumindest schriftlich.

«Hamid ist wahnsinnig fleissig», sagt Nadja Gisske. Sie leitet das Wohnheim von B2. «Er, aber auch die anderen Jugendlichen, machen jeden Abend Hausaufgaben und sie lernen gemeinsam.» Die jungen Syrer, Afghanen und Iraner seien extrem pflichtbewusst, sagt Gisske. «Welcher Schweizer Jugendliche würde schon am Morgen vor der Schule sein Zimmer putzen oder den Gang staubsaugen?»



Sonderförderung für den Klassenbesten: Die Lehrerin diktiert Hamid kurze Texte, er tippt sie in den Computer.

Sonderförderung für den Klassenbesten: Die Lehrerin diktiert Hamid kurze Texte, er tippt sie in den Computer. (Bild: Eleni Kougionis)

Die meisten der jungen Bewohner leben seit Mitte Dezember im B2. «Damals kam die Anfrage vom Kinder- und Jugenddienst Basel-Stadt, ob wir freie Plätze hätten», sagt Thomas Mohler, Geschäftsleiter bei B2.

2015 nahmen die Asylgesuche in der Schweiz zu. Dramatisch war der Anstieg insbesondere bei den UMA. Während 2014 noch knapp 800 unbegleitete junge Asylsuchende in der Schweiz ankamen, waren es ein Jahr darauf bereits rund 2700. Auch anteilsmässig wuchs diese Flüchtlingsgruppe um mehr als das Doppelte. Der Bürgerkrieg in Syrien schlug viele Familien und Jugendliche in die Flucht. Die UMA geniessen besonderen Schutz in der Schweiz, ihre Betreuung und Unterbringung stellt die Behörden vor spezielle Herausforderungen. Unterstützung suchte die Sozialhilfe, die in Basel für die Asylsuchenden zuständig ist, unter anderem bei Privaten wie B2.

Das Bett im Hegenheimer-Quartier ist für die jungen Männer der erste sichere Ort nach Langem.

Dort stand die Infrastruktur bereit. Das Wohnangebot im Hegenheimer-Quartier hat sich für die Unterbringung straffälliger Jugendlicher zwar etabliert, doch die Auslastung sank zuletzt. Heute bewohnen noch drei ursprüngliche Klienten den rechten Flügel. «Wir konnten in kurzer Zeit einen ganzen Gebäudeflügel freiräumen», sagt Mohler. Sollte die Nachfrage weiter steigen, würden die übrigen drei Klienten in B2-Wohngruppen im Gundeli untergebracht. So könne B2 insgesamt 32 jugendliche Asylsuchende aufnehmen. Dabei gelten besondere Aufnahmekriterien: Die Jugendlichen müssen männlich und mindestens 15 Jahre alt sein und sollten nicht unter einer wahrnehmbaren starken Traumatisierung leiden. Ausserdem schaut B2 darauf, dass die Gruppe ethnisch und sprachlich möglichst homogen zusammengesetzt ist.

Pro Jugendlichen erhält B2 von der Sozialhilfe monatlich 5860 Franken für Unterbringung, Begleitung und Tagesstruktur. Die ursprüngliche Klientel war mit 7480 Franken pro Monat und Person deutlich teurer. Mit regelmässigen Coachinggesprächen oder Besuchen bei der Psychologin wird dafür gesorgt, dass es den Jugendlichen auch abseits der Alltagsbewältigung gut geht. «Uns geht es darum, dass die UMA hier die Zeit bis zum Asylentscheid möglichst entspannt verbringen können», sagt Mohler.

Nach der beschwerlichen und gefährlichen Flucht ist das Bett im Hegenheimer-Quartier oft der erste sichere Ort, den diese jungen Männer finden.

Die Ungewissheit bleibt

Am Mittag kehrt Hamid aus der Schule zurück. Er besteht darauf, uns einen Tee zu servieren. Nacheinander finden sich alle Bewohner ein. Im Wohnheim hat Betreuer Claudio Bähler das Mittagessen zubereitet. Bähler wohnt zusammen mit seiner Frau im gleichen Haus und ist die wichtigste Ansprechperson für die Jugendlichen. Im Heim werden sämtliche Mahlzeiten gemeinsam eingenommen. Sie sind fester Teil des Tagesprogramms und eine Gelegenheit, sich auszutauschen. Heute gibt es Pommes, was bei den jungen Männern für Begeisterung sorgt.

Auch wenn sie dieser nur scheu Ausdruck geben, unsere Anwesenheit wirkt wohl etwas einschüchternd auf sie. «Wirklich ausgelassen sind die Jungs selten», sagt Bähler. Man spüre die Ungewissheit, die das Warten auf den Asylbescheid in ihnen auslöse.



Dank Übersetzer können wir uns mit Hamid über seine Heimat und seine Flucht unterhalten.

Dank Übersetzer können wir uns mit Hamid über seine Heimat und seine Flucht unterhalten. (Bild: Eleni Kougionis)

Nach dem Essen können wir uns mithilfe eines Übersetzers eingehender mit Hamid unterhalten. Über seine Heimat, über den Grund für seine Flucht, über die Reise, über seine Hoffnungen und Wünsche.

«Ich komme aus einem kleinen Ort auf dem Land im Taliban-Gebiet, ungefähr 18 Autostunden von Kabul entfernt. Mein Vater besitzt dort etwas Land und einen Bauernhof. Die Taliban wollten mich einziehen und zum Kämpfer machen. Da hat mich mein Vater fortgeschickt. Er und mein kleiner Bruder sind noch dort, meine Mutter ist gestorben. Um meine Flucht zu finanzieren, musste mein Vater ein Stück Land verkaufen. Damit haben wir die Schlepper bezahlt, das hat ungefähr 7000 Dollar gekostet.

Die Flucht hat drei Monate gedauert und führte mich über Pakistan und Iran in die Türkei, von dort nach Griechenland, über den Balkan nach Österreich und schliesslich in die Schweiz. Wir reisten entweder zu Fuss oder im Auto. Dabei war ich meist alleine unterwegs. Eine  Zeit lang hat mich ein junger Mann begleitet, den ich unterwegs kennengelernt habe. Manchmal mussten wir wochenlang bei einem Schlepper im Haus ausharren und uns verstecken. Die Flucht war sehr schlimm, viele Leute sind unterwegs verschwunden. Niemand weiss, wohin. Als wir über das Meer fuhren, sah ich ein ganzes Boot voll mit toten Frauen. Da waren sicher 15 Leichen.

Ich wurde unterwegs nirgendwo registriert, erst in der Schweiz. Hier wurde ich zuerst im Empfangszentrum untergebracht. Nach etwa eineinhalb Monaten kam ich dann zu B2. Ich bin so froh, dass ich hier bin. Endlich darf ich in die Schule gehen. Zu Hause habe ich nie eine Schule besucht. Ich musste meinem Vater auf dem Hof zur Hand gehen. Das war mein grösster Wunsch, dass ich hier etwas lernen darf. Am liebsten würde ich später studieren und Arzt werden. Aber ich weiss, dass das sehr schwierig ist für mich.

Nach Afghanistan will ich nicht mehr zurück. Höchstens, um noch einmal meinen Vater und meinen kleinen Bruder zu sehen. Wir telefonieren einmal im Monat zusammen. Es geht ihnen nicht so schlecht.»

Hamid wirkt angespannt. Beim Sprechen hält er seine Arme verschränkt. Das Erzählen fällt ihm schwer und doch strahlt er eine gewisse Ruhe aus. Er lächelt scheu. Wenn er über die Schule spricht, strahlt er sogar. Als ob er einen Teil seiner Last abgegeben hätte und Platz für etwas Neues schaffen konnte. Als ob dort, wo vorher nichts war, etwas Neues keimen würde.

Nächste Woche sind Schulferien, dann steht für Hamid und seine Kollegen von B2 ein Tag im Schnee auf dem Programm. Ausserdem wollen sie den Garten aufräumen, Tische rausstellen und vielleicht den Grill ein erstes Mal in Betrieb nehmen. Danach beginnt der Frühling und die Jugendlichen erleben bald die ersten warmen Tage in der Schweiz.

* Name geändert. Da die jungen Männer im B2 noch minderjährig sind, wurden sie so fotografiert, dass sie nicht zu erkennen sind.



«Die Flucht war sehr schlimm. Menschen verschwanden einfach, niemand weiss wohin.»

«Die Flucht war sehr schlimm. Menschen verschwanden einfach, niemand weiss wohin.» (Bild: Eleni Kougionis)

 

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