Fast 12’000 Jahre Geschichte – doch jetzt scheint die Zeit für Hasankeyf abgelaufen. Der Ort soll geflutet werden. Noch eine letzte Hoffnung haben die Bewohner: die Neuwahlen in der Türkei.
Das Städtchen Hasankeyf brütet in der immer noch heissen Herbstsonne, als eine Gruppe Radfahrer aus Diyarbakir eintrifft. Sie hat die 135 Kilometer in rekordverdächtiger Zeit zurückgelegt. Die Radfahrer sind aber nicht auf Rekordjagd. Sie treten zum Protest in die Pedale. Jetzt an der Spitze von Demonstranten, die an ihrem Aktionstag gegen die Errichtung des Ilisu-Staudamms protestieren. Die natürliche Flusslandschaft des Tigris soll erhalten bleiben.
Das türkische Energieministerium hat einen anderen Plan. Rund 70 Kilometer von Ilisu entfernt will es einen gigantischen Damm aus Landmasse errichten – ein Stöpsel, der das Tal des Tigris wie eine riesige Badewanne volllaufen liesse. Auf einer Fläche von 313 Quadratkilometern.
Deshalb ist eine ganze Kohorte Umweltaktivisten aus vielen Städten Anatoliens nach Hasankeyf gereist, rund 500 Mitglieder verschiedener Umweltgruppen. Der kleine Ort zwischen dem Tigris und den Klippen des gebirgigen Plateaus des Tur Abdin ist für sie ein Symbol. Hasankeyf steht aus ihrer Sicht für eine verfehlte Energie- und Umweltpolitik der Türkei. Und für eine Jahrtausende alte Geschichte.
Bis zum Stichtag am 6. Juni 2009 waren diese Forderungen noch immer nicht erfüllt. In der Konsequenz kündigten die Schweiz, Deutschland und Österreich die zuvor in Aussicht gestellten Exportrisikoversicherungen. Ohne diese Versicherungen können die Firmen das 1,2 Milliarden Franken teure Projekt nicht stemmen können, dachte man. Die entwicklungspolitische Organisation «Erklärung von Bern» und die internationale «Stop-Ilisu-Kampagne» glaubten an ihren Sieg. Der endgültige Ausstieg der Europäer hielt man für «das einzig richtige Signal». Ein weiteres positives Zeichen war, als auch potenzielle chinesische Partner abgewinkt hatten.
Doch dann beschloss die türkische Regierung kurzerhand, die Finanzierung selber zu stemmen.
Die Aufsicht auf Ilisu mit seinen diversen neuen Strukturen wie künstlich bewegten Landmassen lässt erahnen, mit welch gigantischer Dimension von Bauprojekt man es hier zu tun hat.
Am meisten entmutigt ist aber wohl die Bevölkerung vor Ort. Der Bau hat längst begonnen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der Ilisu-Staudamm fertig wird. Das sollte ursprünglich Ende dieses Jahres der Fall sein. Inzwischen heisst es, sicher nicht vor 2016/17, eher später.
Der Ilisu-Damm ist einer der letzten und grössten der insgesamt 22 Staudämme und 19 Wasserkraftwerke, die im Gap-Projekt entlang von Euphrat und Tigris geplant oder bereits gebaut sind. Zusammen sollen sie den wachsenden Energiehunger des Landes stillen. Doch Anschläge auf Baufahrzeuge, entführte Arbeiter oder Streiks unterbrechen die Arbeiten immer wieder. Am Ilisu-Staudamm ruhen die Arbeiten derzeit komplett. Nur an der neuen Strasse, die oberhalb der zukünftigen Wasserlinie liegt, wird momentan gearbeitet.
Die eigentliche Baustelle des Staudamms ist grossräumig abgeriegelt und kann nur mit einer Sondergenehmigung aus Ankara besucht werden. Vor Ort sieht man schon von Weitem eine stark veränderte Geologie. Und die Verteidigungsanlagen, die das türkische Militär auf den umliegenden Bergen errichtet hat. Die Baustelle ist auch ein immer wieder erklärtes Ziel der PKK gewesen. Vermutlich ist der aktuelle Baustopp auch eine Folge der verschärften Situation zwischen der Türkei und der Kurden.
Mit dem Wasser des Tigris fing alles an, bald könnte es auch alles beenden.
Seit den Wahlen im Sommer und dem damit einhergehenden Machtverlust von Tayyip Erdogan hat sich die Lage auch hier verschärft. Für die Bewohner von Hasankeyf sind die erneuten Wahlen an diesem Wochenende ein letzter Hoffnungsschimmer. Wer weiss, vielleicht können die vernünftigen und fortschrittlichen Kräfte die Oberhand gewinnen. Vielleicht gelingt dann doch noch die erhoffte Kehrtwende in der langen Auseinandersetzung um die Zukunft von Hasankeyf, den vielen umliegenden Dörfern und dem wunderschönen Tal des Tigris. Vielleicht kann jemand den Stöpsel aus der Wanne ziehen, bevor das Wasser eingelaufen ist.
Die Chancen sind gering. Doch am Mut der Bevölkerung soll es nicht liegen, sind die Teilnehmer am Demonstrationszug überzeugt. Sie haben den Endpunkt des Aktionstages erreicht – das Ufer des Tigris. Einige lassen kleine Drachen in den Himmel steigen, andere kühlen sich im Fluss ab und singen kurdische Lieder. Der Protest hört da auf, wo vor 12’000 Jahren die Kulturgeschichte des Ortes anfing. Am Wasser des Tigris, das in naher Zukunft auch alles beenden könnte.
Ein friedlicher und fröhlicher Protest gegen die Errichtung des Ilisu-Staudamms endet im Tigris. (Bild: Stefan Pangritz)