Hillsborough: Der Ruf nach Gerechtigkeit

13 Jahre lang galten betrunkene Fans als Auslöser für die Stadionkatastrophe von Hillsborough, bei der 96 Menschen ihr Leben verloren. Nachdem eine Untersuchungskommission festgestellt hat, dass in Wirklichkeit überforderte Behörden Schuld tragen, stellt sich die Frage: Wird nun Anklage wegen Totschlags erhoben?

FILE - Liverpool soccer fans arrive at Anfield Stadium to pay their respects as flower tributes cover the 'Kop' end of the field, in Liverpool, on April 17, 1989, following April 15, when fans surged forward during the FA Cup semi-final between Liverpool (Bild: Keystone/Peter Kemp)

13 Jahre lang galten betrunkene Fans als Auslöser für die Stadionkatastrophe von Hillsborough, bei der 96 Menschen ihr Leben verloren. Nachdem eine Untersuchungskommission festgestellt hat, dass in Wirklichkeit überforderte Behörden Schuld tragen, stellt sich die Frage: Wird nun Anklage wegen Totschlags erhoben?

Am Tag nach der Wahrheit rückt die Gerechtigkeit in den Mittelpunkt der Diskussion. Nachdem der Bericht der Hillsborough-Untersuchungskommission das ganze, zutiefst erschreckende Ausmass von behördlicher Inkompetenz und Polizei-Propaganda im Zuge der Sheffielder Stadionkatastrophe vom April 1989 offenbart hat, müssen die Familien-Angehörigen die 96 Opfer und andere Liverpool-Fans nicht mehr länger gegen den haltlosen Vorwurf einer Mitschuld verteidigen.

Die Anhänger der Reds waren nicht wie von der Polizei behauptet, stark betrunken; Fans, die sich ohne Eintrittskarten in die Spielstätte drängeln wollten, spielten ebenfalls keine entscheidende Rolle. Doch mit der offiziellen Entschuldigung von Premier Minister David Cameron für das doppelte Versäumnis  («der Staat hat darin versagt, die Unversehrtheit dieser Menschen zu gewährleisten», «das Warten auf die Wahrheit war unverzeihlich») ist es für die «Hillsborough Family Support Group» noch lange nicht getan. «Es wird Zeit, dass die Verantwortlichen belangt werden», sagte Terry Hicks, der Vorsitzende der Interessengruppe. Seine zwei Töchter wurden von den Menschenmassen zerquetscht.

Totschlag statt Unfalltod?

Generalstaatsanwalt Dominic Grieve muss in den nächsten Wochen die 450’000 von der Kommission veröffentlichten Dokumente sichten und entscheiden, ob sich das ursprüngliche Urteil der Gerichtsmediziners – Unfalltod – noch als haltbar erweist.

Denn am schwärzesten Tag in Englands Fussballgeschichte kam soviel Fahrlässigkeit zusammen, dass der Tatbestand des Totschlags erfüllt sein könnte: Von der Ansetzung des FA-Cup-Halbfinals in dem schon damals als unsicher eingeschätzten Stadion über das fatales «Crowd-Management» der Polizei vor den Toren bis zur völlig ungenügenden medizinischen Versorgung der Opfer – nur eine von 40 Ambulanzen schaffte es ins Stadioninnere.

In diesem Zusammenhang muss auch die Rolle des Fussballverbands neu beleuchtet werden. Die Football Association war Ausrichter der Partie,  vermied es aber 23 Jahre lang, die Verantwortung für die Tragödie zu übernehmen. Aus der veröffentlichten Korrespondenz mit der Anwaltskanzlei des Verbands geht hervor, dass die FA die Sorge trug, dass eine Entschuldigung als Schuld-Eingeständnis interpretiert hätte werden können; auch eine Spende an die Angehörigen wurde aus diesem Grund vermieden.

Der Fussballverband hat Angst vor Schadenersatzforderungen

Um so verblüffender war die schwammige Stellungnahme, die von der FA am Donnerstagmorgen verbreitet wurde. «Wir heissen die Veröffentlichung des Berichts willkommen, unsere tiefe Trauer gilt den Familienangehörigen», ließ der Verband verlautbaren.

Von einer Entschuldigung oder gar einem Eingeständnis der eigenen Versäumnisse fehlte jede Spur. Augenscheinlich treibt die finanziell klamme FA nun erst Recht die Angst um, von den Angehörigen auf Schadensersatz verklagt zu werden.

Im Laufe des Nachmittags sagte FA-President David Bernstein doch noch «sorry», aber auch seinem Statement schimmerte der Rat von Anwälten durch.  Er biete «eine volle, uneingeschränkte Entschuldigung an», sagte Bernstein, «wir bedauern zutiefst, dass es so lange gedauert hat, bis die Wahrheit ans Licht kam.»

Wahr ist, dass der Verband schon seit langem von den eigenen Fehlern wusste, sich aber hinter der offiziellen Lesart der Katastrophe als Verkettung unglücklicher Umstände versteckte. Zur alles entscheidenden Frage verlor auch Bernstein kein Wort: Warum wählte der Verband Hillsborough als Spielort, obwohl dem Stadion das Sicherheitszertifikat fehlte und es schon bei anderen Matches zu lebensbedrohlichen Zwischenfällen gekommen war?

Zynische Gleichgültigkeit

Aus der Entscheidung spricht bestenfalls eine zynische Gleichgültigkeit gegenüber den damals als in erster Linie als gewaltbereite Randalierer eingeschätzten Fans auf der Insel. «Es gab diese Kultur in den Achtziger Jahren: Leute, die als aufrührerisch gesehen wurden, ob Fussballfans oder streikende Arbeiter, wurden wie Menschen zweiter Klasse behandelt», sagte der Liverpooler Parlamentsabgeordnete Andy Burnham, der sich in den vergangenen Jahren für die neuerliche Untersuchung stark gemacht hatte.

Während ein Sprecher des Innenministeriums ankündigte, dass alle Vorwürfe des kriminellen Fehlverhaltens schnellstens untersucht und Straftäter vor Gericht kommen würden, verwies Bernstein auf die nach Hillsborough gelernten Lektionen. «Die FA und der englische Fussball haben sich in den vergangenen 23 Jahren unermesslich verändert», sagte er, «Fussball bietet heute Zuschauern ein viel sichereres, angenehmeres Umfeld.»

Dass 96 Fans für diesen Fortschritt mit ihren Leben bezahlten, liess er unerwähnt.

Nächster Artikel