Ich atme, ich sehe, ich höre, ich fühle, ich denke

Ob das Leben einen Sinn hat, kann ja nicht die Frage sein. Vielmehr: Was kann ich tun, damit es noch mehr Sinn macht?

(Bild: Patric Sandri)

Ob das Leben einen Sinn hat, kann ja nicht die Frage sein. Vielmehr: Was kann ich tun, damit es noch mehr Sinn macht?

Christian Lohr (Bild: Patric Sandri)

Mit der Fülle von Aufgaben, die uns das Leben beschert, wissen wir sehr oft gar nicht mehr richtig umzugehen. Oftmals gelingt es uns nicht mehr, wirklich Wichtiges von weniger Bedeutendem zu unterscheiden. Man – und davon will ich mich durchaus nicht ausnehmen – glaubt, alles bewältigen zu wollen oder zu können. Dabei verlieren wir sehr oft den Überblick oder eben den Blick für das Wesentliche. Wir scheuen Erfahrungen mit den eigenen Grenzen, weil sie sehr oft im ersten Moment schmerzhaft sind. Das eigene Unvermögen in verschiedenen Situationen zuzulassen, das stellt immer wieder eine grosse Herausforderung dar. Aus dieser vermeintlichen Schwäche heraus entsteht aber immer wieder neue Stärke.

Wann sind wir denn glücklich und zufrieden in unserem Leben? Eine Frage, die natürlich nach einer individuellen Antwort ruft. Jeder Mensch wird dies wohl aus seiner Sicht anders sehen. Braucht es dazu den Wohlstand, der uns zwar zweifellos eine gewisse Sicherheit bietet, der aber geopolitisch betrachtet kaum das gewünschte Gleichgewicht auf der Welt als Basis hat? Oder hängt es davon ab, ob wir keine körperliche, geistige oder andere Beeinträchtigungen haben? Sind es problemfreie Beziehungen privat oder im Beruf, die für uns zum Gedanken vom perfekten Sein gehören? Je mehr ich hier aufzulisten beginne, desto bewusster wird mir, dass wir uns mit diesen Vorstellungen Schritt für Schritt mehr von der Realität wegbewegen.

In Scheinwelten

Wohl glauben wir, stetig idealisierte Bilder zeichnen zu müssen, und lassen uns auch noch davon blenden. Wir lassen uns oft lieber in Scheinwelten leiten, als uns mit dem konfrontieren zu lassen, was ist. Annehmen, hinschauen, zuhören, nachdenken, verantworten. Können wir das überhaupt noch?

Ich denke, dass es uns immer wieder gelingen kann, wenn wir dazu bereit sind, uns selber einfach nicht so wichtig zu nehmen. Oder, um es ein wenig differenzierter auszudrücken, die richtige Balance zwischen eigennützigem Denken und Selbstlosigkeit zu finden. Zum Hinterfragen der eigenen Verhaltensmuster zählt auch das Bemühen, nicht nur schwarz-weiss zu betrachten, sondern Vielfarbigkeit mit Schattierungen als etwas sehr Bereicherndes zu erkennen.

Das klingt nun alles sehr gut und harmonisch. Tolerant zu sein, das ist eine anzustrebende Grundhaltung, an der man auch immer wieder arbeiten muss. Was beinhaltet dieses Für-vieles-offen-zu-sein aber tatsächlich? Kann es beispielsweise etwa auch heis­sen, Abstand zu nehmen von Vorstellungen, Wünschen, Träumen und Zielen? Das Leben verläuft nicht stromlinienförmig – und das ist gut so! Es bringt uns fast täglich Überraschungen, Freuden und Ärgernisse, Momente des Glücks und der Verzweiflung. Wir dürfen oder eben wir müssen durch Wechselbäder der Empfindungen, die uns berühren und bewegen. Da passiert etwas mit uns, es entstehen Fragen, auf die es nicht immer Antworten gibt.

Jeder Tag ist der richtige

Eines dieser Themen, welches uns ganz besonders zum Nachdenken anregt, ist die Sinnhaftigkeit des Lebens. Interessanterweise beschäftigen wir uns gerne immer wieder gerade zum Jahresende mit ihr. Als ob der für viele­ Menschen stets hektischer werdende Jahreswechsel der geeignetste Zeitpunkt sei, um zu reflektieren. Ich meine, jeder Tag ist der richtige für Gedankenklärungen. Und diese müssen auf keinen Fall abschlies­send sein, sondern können vielmehr immer nur eine aktuelle Momentaufnahme auf einem nie endenden Weg sein. Auch ich setze mich sehr oft damit auseinander, welchen Sinn mein Leben hat. Dabei bin ich in der glücklichen Lage, mich nicht fragen zu müssen, ob es Sinn macht, dafür aber, was ich tun kann, damit es noch mehr Sinn macht.

Wie komme ich nun aber dazu, an dieser Stelle zu behaupten, dass ich den Sinn des Lebens erkannt zu haben glaube? Ich tue dies aus der Überzeugung heraus, Ja zum Leben zu sagen. Denn dies scheint mir die allerwichtigste Voraussetzung zu sein, um genauer wahrnehmen zu können, was mir das Leben alles bringt. Was es mir trotzdem oder erst recht bietet. Ich beziehe diese Frage auf meine besondere Lebenssituation mit einer schweren körperlichen Behinderung, die ich als Realität angenommen und akzeptiert habe. Die scheinbare Benachteiligung sehe ich heute als Privileg, täglich neuen Aufgaben mit einer positiven Einstellung begegnen zu können. Der tiefe innere Glaube, in den unzähligen Herausforderungen doch immer wieder von vielen gestärkt zu werden, bekräftigt mich in meinen Engagements. Und in diesen will ich vor allem auch anderen Mitmenschen Mut machen.

Wie komme ich nun aber dazu, an dieser Stelle zu behaupten, dass ich den Sinn des Lebens erkannt zu haben glaube? Ich tue dies aus der Überzeugung heraus, Ja zum Leben zu sagen.

Ich stehe zu meinem Leben mit meinen Einschränkungen. Nicht alles ist möglich, aber viel Undenkbares lässt sich möglich machen. Mir sind im Leben viele Chancen geschenkt worden. Die grösste davon ist sicherlich diejenige, dass ich überhaupt leben darf. Und dies nicht trotz, sondern mit meiner Behinderung. Ich atme, ich sehe, ich höre, ich fühle, ich denke. Warum betone ich das jetzt auf einmal so stark? Möglicherweise deshalb, weil man als Mensch mit einem Handicap in unserer Gesellschaft bisweilen das Gefühl vermittelt bekommt, sich dafür rechtfertigen zu müssen, dass man überhaupt lebt. Ein wahrlich schrecklicher Gedanke! Natürlich habe ich die Kraft und erfreulicherweise auch die politischen Mittel, mich gegen solche Strömungen zu wehren. Aber wie ist das mit den vielen anderen, die sich ausgegrenzt fühlen?

Gefährliche pränatale Diagnose

Die Natur besticht durch ihre Vielfalt. Warum wollen wir es nicht zulassen, dass auch wir Menschen alle unsere Besonderheiten und auch speziellen Bedürfnisse haben? Die Normorientierung, der wir sehr oft unterliegen, kann bei Sachen und Gegenständen zwar sinnvoll sein. Menschen sind aber schon von Geburt an unterschiedlich, das gilt es zu respektieren. Für mich sind deshalb pränatale Untersuchungen dann nicht akzeptabel, wenn sie das Aussortieren des Individuums mit einer Behinderung zum Ziel haben. Zu entscheiden, was lebens­wert ist oder nicht, diese Anmas­sung dürfen wir als Gesellschaft nicht auf uns nehmen.

Menschen sind aber schon von Geburt an unterschiedlich, das gilt es zu respektieren.

Auch die ebenfalls in der Diskus­sion stehende Präimplatations­­dia­gnostik erachte ich als problematisch. Wenn wir in die Entwicklung von künftigen Menschenleben eingreifen, erreichen wir eine ethisch sehr heikle Grenze. Selbstverständlich sehe ich die Chancen, Krank­heiten zu lindern oder im besten Fall gar zu verhindern. Entschieden stelle ich mich jedoch dagegen, die Möglichkeit zum Ordern von «makellosen Katalogkindern» als eine doch abstrus klingende Zukunftsvision zu propagieren. Ein ­Leben mit Behinderung macht Sinn, da es uns Herausforderungen und Chancen zugleich aufzeigt. Was es in der Schweiz zu verbessern gilt, sind die Perspektiven für Menschen mit ­einer Behinderung. Die Integration im Alltag, in der Schule, im Sport, bei kulturellen Anlässen – das sind alles Projekte, die weiterentwickelt werden müssen.

Nein, ich spreche hier nicht von ­einer Randgruppe, ist doch jede siebte Person in unserem Land von einer ­Behinderung betroffen. Deshalb hat es auch mit der Würde im Zusammenleben in unserem Staat zu tun, wenn wir uns Gedanken machen, wie wir dieses äusserst heterogene Segment zielgerichtet unterstützen, fördern und begleiten können. Die Behinderung können wir niemandem abnehmen, aber gemeinsam dafür sorgen, dass sich die Personen nicht noch zusätzlich behindert fühlen müssen – das können wir.

Fairness statt Gleichgültigkeit

An was, und damit komme ich zu meinen Schlussgedanken, orientiere ich mich, wenn ich vom Sinn des Lebens spreche? Für mich hat es eindeutig mit der Fähigkeit zu tun, zu spüren, wahrzunehmen. Sich gegenseitig zu verstehen, sich zu respektieren, sich zu lieben, sich mitzutragen, ja auch sich herauszufordern, das sind alles keine Selbstverständlichkeiten. Sie beinhalten Werte, die gerade in der heutigen Zeit unbedingt wieder gestärkt werden sollten. Fairness statt Gleichgültigkeit, das mag jetzt etwas plakativ daherkommen, aber es macht als ehrliche Grundhaltung eben doch sehr viel Sinn.

Christian Lohr (49) ist Thurgauer CVP-Nationalrat. Er kam als Folge einer Contergan-Schädigung ohne Arme und mit missgebildeten Beinen zur Welt.

Quellen

Die Website von Christian Lohr.

Zahlen und Fakten zu Behinderten in der Schweiz von Pro Infirmis.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.12.12

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