Er wird geliebt und gehasst. Seit Glenn Greenwald vor einem Jahr die Snowden-Dokumente zur flächendeckenden Überwachung veröffentlicht hat, steht er ununterbrochen im Rampenlicht. Wer ist der Mann, was treibt ihn an, wer tröstet ihn? Ein Besuch in seinem Dschungel-Refugium bei Rio.
Die Hunde können Glenn Greenwald riechen, lange bevor sie ihn sehen. Als wir den Hügel hoch zu seinem Haus fahren, empfängt uns ohrenbetäubendes Gebell. Es ist so überwältigend, dass es mich an die Führungsspitze der National Security Agency (NSA) denken lässt, die Greenwald seit nunmehr einem Jahr in Atem hält. «Sie beissen nicht», sagt Greenwald. Inzwischen sind wir umringt von einer Meute von Strassenhunden, die er und sein Partner, David Miranda, gerettet haben. Einen Augenblick später ergänzt er: «…solange du keine Angst zeigst.»
Ich bin nicht sicher, ob er spasst. Ein unangenehmes Gefühl angesichts dieser zwölf Hunde, vom 40 Kilo schweren Berner Sennenhund bis zum Zwergpinscher, kaum grösser als eine Ratte. Das Bild von Greenwald und seinen Hunden ging um die Welt, Nachrichtenorganisationen zeigten es immer wieder, seitdem seine ersten NSA-Enthüllungen vor einem Jahr beim «Guardian» veröffentlicht worden waren.
Schon vor diesen Enthüllungen war Greenwald ein Schreiber mit treuer Gefolgschaft. Nun steht er noch stärker im Rampenlicht. Insbesondere in den USA, wo er für sein Markenzeichen – angriffigen, aktivistischen Journalismus – geliebt und gehasst wird.
Sein neues Buch «Die globale Überwachung» beginnt mit Greenwalds Schilderung, wie er, Poitras und der «Guardian» die möglicherweise bedeutendste Geschichte des Jahrzehnts ins Rollen gebracht haben. Rückblickend verblüfft es, wie nahe Greenwald daran war, die Geschichte zu verpassen. Das scheint mir ein geeignetes Thema, um unser Gespräch zu eröffnen, als wir uns im Herzen von Rio treffen.
Die englische Fassung von Glenn Greenwalds Buch, No Place to Hide, ist am 13. Mai 2014 bei Hamish Hamilton erschienen. Lesen Sie einen Auszug daraus auf Deutsch: Der Tag, an dem Edward Snowden weltbekannt wurde.
«Von Verschlüsselung hatten Sie keinen Schimmer», sage ich, in der Annahme, dass einer, der den Konflikt nicht scheut, den verbalen Schlagabtausch schätzen wird. «Ich bin deutlich besser geworden, ehrlich!», platzt es aus ihm heraus. Seine Antwort ist so offenherzig, dass ich den Mann sofort neu bewerten muss.
Dieser Gegensatz ist typisch für Greenwald. Auf Twitter oder in seinem Blog ist er ein erbitterter Kämpfer, trifft man ihn persönlich, ist er höchst charmant. Als ich das später erwähne, stimmt er zu: «Viele Leute denken, ich wäre ein abscheuliches, ausfälliges Arschloch.»
Aber es stimmt. Greenwald hatte keinen Schimmer von Verschlüsselung. Wie die meisten Journalisten wusste er nicht umzugehen mit jenen digitalen Werkzeugen, die es ermöglichen, mit Quellen zu kommunizieren, ohne dass es die NSA oder sonst jemand mitbekommt.
Im Dezember 2012 hatte Snowden zum ersten Mal mit Greenwald Kontakt aufgenommen. Unter dem Pseudonym Cincinnatus drängte er ihn dazu, PGP-Verschlüsselung zu aktivieren, damit sie gesichert kommunizieren könnten. Greenwald las das E-Mail, antwortete aber nicht. «Nichts in diesem E-Mail war für mich verlockend genug», schreibt er in seinem Buch.
«Ich habe wirklich alles getan, was ich tun konnte, um es zu vermasseln.»
Sieben Wochen verstrichen – sieben! –, aber Snowden liess nicht locker, bat Greenwald eindringlich, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, damit sie ungehindert chatten könnten. Greenwald bekommt eine der grössten Enthüllungen der US-Geschichte serviert – und machte monatelang einfach nichts. «Ich muss irgendeinen Überwachungs- oder Journalismus-Schutzengel gehabt haben», sagt er. «Ich habe wirklich alles getan, was ich tun konnte, um es zu vermasseln.»
Einen grossen Teil des Buches widmet Greenwald seinen Ausführungen, warum die NSA-Geschichte von Bedeutung ist. Er beschreibt die Bedrohung durch Massenüberwachung und die Notwendigkeit von Privatsphäre präzis und erstaunlich flüssig für einen Journalisten, der bekannt ist für einen sehr dichten Stil.
«Die Beweisführung ist nicht einfach», sagt er. «Privatsphäre wird gegen eine viel instinktivere, tief sitzende Angst ausgespielt: dass Sie und Ihre Kinder von Terroristen in die Luft gesprengt werden. Menschen sind getrieben von Angst – das können Sie nicht beiseitewischen, wenn Sie ein abstraktes Prinzip hochhalten wollen.»
In seinem Buch versucht er, dieses Prinzip ins Konkrete zu übersetzen, indem er zeigt, dass Privatsphäre ein unverzichtbares Element einer freien Gesellschaft ist. Sie sei es, die es uns erlaubt, zu experimentieren, ein Risiko einzugehen, alberne Dinge zu tun, unsere eigenen Grenzen auszuloten.
«Alles ausschnüffeln, alles wissen, alles verarbeiten, alles ausnutzen, alles weitergeben.»
Zu seiner Freude hat die NSA eines der besten Beispiele dafür gleich selber geliefert. Im Buch ist eine Darstellung aus den Snowden-Dokumenten abgedruckt, die Greenwald fast zum Lachen gebracht hat, als er sie zum ersten Mal sah. So surreal ist sie. Unter dem Titel «Neue Haltung zur Datensammlung» wird die Ambition der NSA in erstaunlich offenen Worten beschrieben. «Alles ausschnüffeln, alles wissen, alles verarbeiten, alles ausnutzen, alles weitergeben.»
«Die NSA hat das so geschrieben, weil sie dachten, dass niemand sie beobachten würde», sagt Greenwald. Sein Gesicht beginnt vor Begeisterung zu strahlen. «Sie haben sich in einer Art und Weise ausgedrückt, wie kein Beamter jemals sprechen würde, wenn er ahnen würde, dass man ihn hören könnte. Genau darum ist Privatsphäre so wichtig.»
Nichts von alledem beantwortet mir jedoch die entscheidende Frage zur NSA-Geschichte: Warum er, warum Greenwald? Wie kommt er dazu, sich derart hingebungsvoll der Sache zu widmen, sich unerbittlich ab 2005 in seinem Blog an einem Thema abzuarbeiten, das die meisten Leuten bis zu den Snowden-Enthüllungen für unbedeutend oder schleierhaft hielten?
«Meine Homosexualität hat mich zu einem Aussenseiter gemacht. Dafür bin ich ewig dankbar.»
Nichts in seinem Lebenslauf deutet darauf hin, dass er sich zu einer Geissel überbordender staatlicher Macht entwickeln würde. Er wuchs in einem unscheinbaren Teil von Florida auf, seine Mutter war Hausfrau, sein Vater ein den Republikanern zugeneigter Buchhalter. Er selber sagt, man habe damit rechnen können, dass er «irgendwo in einer grossen Stadt ein Firmenanwalt» werde. Was also ist geschehen?
«Ehrlich gesagt, mich hat gerettet, dass ich schwul bin. Meine Homosexualität hat mich konfliktfreudig und selbstbewusst gemacht – und zu einem Aussenseiter. Dafür bin ich ewig dankbar.»
Als wir den Hügel zu seinem Haus hochfahren, senkt er die Stimme. «Ich erinnere mich an dieses ständige Ringen, zwischen meinem achten und zwölften Lebensjahr. Ich spürte, dass da diese Sache in mir war, wie eine Erkrankung, die meinen ganzen Körper durchdringt, die ich geheim halten musste. Es fühlte sich an, als wäre etwas im Universum schiefgelaufen: Es ist doch nicht gedacht, dass das mit mir geschieht. Das geschieht mit anderen Menschen. Ich fühlte mich ständig fremd, dachte, ich müsse mein wirkliches Ich verbergen, weil es schlecht oder krank sei.»
Dann sagt er: «Aber irgendwann kommt der Punkt, wo du dir sagst: Das ist doch beschissen, es wird dir ein komplett unzulässiges Urteil aufgedrängt. Und dann beginnst du, dagegen anzukämpfen.» Der Glenn Greenwald, den wir kennen – den die NSA und der britische Geheimdienst verabscheuen –, war geboren.
Ich möchte das Gespräch wieder etwas auflockern, also spiele ich auf die berüchtigte Frage an, die «Guardian»-Chefredaktor Alan Rusbridger vor einem Parlamentsausschuss gestellt wurde. «Mister Greenwald, lieben Sie Amerika?» Er erkennt den Witz, antwortet trotzdem ernsthaft: «Amerika ist für mich eine Reihe von politischen Werten und Prinzipen, die in den Gründungsdokumenten verankert sind. Ich bin ein glühender Verehrer dieser politischen Werte.»
Der Mann, der von seinen Gegnern als Anti-Amerikaner und Verräter verschrien wird, ist im Grunde so amerikanisch, wie es nur geht.
«Jetzt klingen Sie wie ein Mitglied der Tea Party», sage ich. «Aber es ist so. Ich habe hohe Achtung vor diesen Werten. Ich hasse es, dass meine Regierung sie so häufig verletzt.»
Sein Beschwören der Gründerväter ist aufschlussreich, insbesondere für einen, der sich nicht gerne politisch schubladisieren lässt – er will weder links noch rechts sein, weder progressiv noch konservativ; das einzige Etikett, das er einigermassen akzeptiert, ist das eines «Civil Libertarian», aber auch dies nur widerwillig. Es ist aufschlussreich, nicht wegen der Tea Party. Sondern weil es ein Paradox aufzeigt: Der Mann, der von seinen Gegnern als Anti-Amerikaner und Verräter verschrien wird, ist im Grunde so amerikanisch wie es nur geht.
Teil seines Amerikaner-Seins besteht darin, dass er nicht Traditionen und Institutionen vertraut, sondern einzelnen Menschen – und sich selber. Darum hält er das Internet für so essenziell. Es verschiebt Macht von jener Redaktion der «Washington Post» in sein eigenes Dschungelbüro. Von dieser Sichtweise geleitet war auch sein Entscheid, den «Guardian» zu verlassen und sein eigenes Medium zu lancieren, «The Intercept». Der Wechsel war waghalsig und mutig, als ich ihn darauf anspreche, reagiert er überraschend nachdenklich.
Er habe, vielleicht nicht Reue, aber so etwas wie ein bisschen Schuld empfunden, dass er den «Guardian» zu einem Zeitpunkt verlassen habe, als die NSA-Enthüllungen noch voll im Gang waren. «Ich möchte es nicht Verrat nennen, das ist zu stark, aber mangelnde Loyalität…»
«The Intercept» wird finanziert von Pierre Omidyar, dem Gründer von Ebay. War es schlau, den «Guardian» zu verlassen, ein Medium ohne Besitzer, gestützt von einer Stiftung, in die Arme eines milliardenschweren Technologie-Magnaten, der mit einem Scheck über 250 Millionen Dollar wedelt? Und ist er sich damit treu geblieben, er, der «big business» immer scharf kritisiert hatte?
«Wenn jemand versucht, in meine Arbeit einzugreifen, dann ist das der Moment, in dem ich aufhöre.»
«Vielleicht war mein Urteilsvermögen etwas beeinträchtigt. Ich hatte nicht geahnt, wie es ankommen würde. Pierre is nicht einfach irgendein Geldgeber. Er ist der hundertstreichste Mensch der Erde. Er besitzt neun Milliarden Dollar, ein unvorstellbares Vermögen. Und er kommt aus genau jener Technologiebranche, die in die NSA-Geschichte verwickelt ist. Ich habe wohl zu wenig darauf geachtet, wie das wahrgenommen werden würde.»
Wahrgenommen? Ergibt sich nicht ein Problem für die journalistische Unabhängigkeit? «Nein», sagt Greenwald bestimmt. «Wenn jemand versucht, in meine Arbeit einzugreifen, dann ist das der Moment, in dem ich aufhöre.»
«‹The Intercept› wird dafür kritisiert, dass Sie bisher entgegen Ihren Versprechen keine weiteren NSA-Enthüllungen präsentiert haben. Warum geht es so langsam voran?»
«Ein Medium auf die Beine zu stellen ist anspruchsvoller, als ich gedacht hatte», gesteht er ein. «Was ja auch logisch ist, da ich es zum ersten Mal mache. Meine Vorstellung war ganz einfach: Gebt mir eine verdammte Website und tretet beiseite.»
Es versteht sich, dass Greenwald nach den NSA-Enthüllungen nicht auf ausgerolltem roten Teppich voranschreiten kann. Gewiss, er hat profitiert: Bekanntheit auf der ganzen Welt, ein Fernsehinterview nach dem anderen, Auszeichnungen, in die Höhe geschossene Auftrittshonorare und nicht zuletzt die Filmrechte an der Geschichte, deren Details zurzeit mit Sony ausgehandelt werden (auf die Frage, welchen Schauspieler er sich für seine Rolle wünsche, antwortet er nicht, sagt nur: «Das ist mir sowas von komplett egal, wirklich.»)
«Ich konnte nichts dagegen tun. Also habe ich haufenweise Junk-Food gekauft und mich mit Doritos vollgefressen.
Musste er auch Tribut zollen, einen Preis dafür bezahlen für alles, was er durchgemacht hat? Man kann nicht einige der mächtigsten Geheimdienste der Welt angreifen, ohne ihrem Druck ausgesetzt zu sein, selbst wenn man in einem Dschungelparadies lebt.
Seine Verletzbarkeit wurde ihm so richtig bewusst, als sein Partner David Miranda an jenem schicksalhaften Tag in Heathrow in die Mangel genommen wurde. Seinem Charakter hätte es entsprochen, sich lautstark zu wehren, ihm wurde aber geraten, ruhig zu bleiben. «Ich konnte nichts dagegen tun. Also bin ich in den Supermarkt gegangen, habe haufenweise Junk-Food gekauft und mich mit Doritos vollgefressen. In einem solchen Moment spürst du, was Macht ist. Sie hatten den Menschen, den ich mehr als alles andere auf dieser Welt liebe, in einen Raum geschlossen und hätten ihn ohne weiteres verhaften und einsperren können. Diese Hilflosigkeit. Da fühlte ich mich zur ersten mal verletzlich, weil ich machtlos war.»
Am meisten unterstützt an diesem langen und schwierigen Tag hat ihn Snowden. Die beiden kommunizierten den ganzen Tag, Greenwald – völlig ausser sich – an seinem Schreibtisch im Dschungelbüro, Snowden in seinem Asyl in Russland, das ihm zwei Wochen davor gewährt worden war. Es war ein ausserordentlicher, ergreifender Rollentausch: Die Quelle tröstet den Journalisten.
«Snowden war so wütend und besorgt, als er erfuhr, dass David festgehalten würde. Ich war schockiert», sagt Greenwald. «Seine eigene Lage war sehr unsicher zu dieser Zeit – ihm stehen 30, 40 Jahre im Gefängnis bevor, sollte er jemals zurück in die USA kommen –, und dennoch unterstützte er mich. In diesem Moment habe ich realisiert, dass wir für immer verbunden sein werden durch diese gemeinsame Sache. Die meisten Journalisten mögen das nicht zugeben, ich habe kein Problem damit: Wir verfolgen dieselben Ziele. Wir haben eine Bindung, eine menschliche Bindung.»
«Es fühlt sich einfach falsch an, ihn Ed zu nennen.»
Bindung hin oder her, ich finde es interessant, dass Greenwald, sowohl im Buch wie im Gespräch, sein Gegenüber stets «Snowden» nennt, nie bei seinem Vornamen. Was hat es damit auf sich?
«Es ist total eigenartig. Ich kann ihn nicht Ed nennen. Lange Zeit nannten wir ihn einfach ‹die Quelle›. Als ich ihn dann traf, verwendete ich nie seinen Namen. Es fühlt sich einfach falsch an, ihn Ed zu nennen.»
Greenwald ist nicht Snowdens Aufpasser, ebensowenig ist er verantwortlich für den Entscheid, die Dokumente zu leaken. Und trotzdem sind sie bemerkenswert, die krass unterschiedlichen Schicksale dieser beiden Männer mit denselben Zielen. Greenwald wurde überhäuft mit Reichtum und Angeboten. Snowden stehen Jahre im Exil oder Gefangenschaft bevor.
«Ich bin mir dessen bewusst», sagt Greenwald, der dabei untypisch gekünstelt klingt. «Er hat das grösste Opfer erbracht, und ich habe dafür Geld und Bekanntheit bekommen. Darum denke ich jeden Tag darüber nach, wie ich sie so einsetzen kann, dass es dem gerecht wird, was er erreichen wollte, dass es die Sache voranbringt. Ich weiss, dass ich in seiner Schuld stehe.»
Bevor ich gehe, stelle ich noch eine letzte Frage. Die Dunkelheit bricht herein, überall auf der Veranda haben es sich Hunde bequem gemacht. Wie würde ein Sieg für Glenn Greenwald aussehen? «Kein einzelnes Land soll das Internet in einer Art und Weise kontrollieren können, wie es die USA derzeit tun», sagt er. «Darüber hinaus geht es darum, dass die Leute ihre Sichtweise auf diese Themen verändern. Nicht nur Überwachung und Privatsphäre. Mythos und Realität, Propaganda, die Rolle des Journalismus. Diese Fragen müssen deutlich ernsthafter debattiert werden. Ein Wandel des öffentlichen Bewusstseins – das wird der grösste Sieg sein.»
Aus dem Englischen übersetzt von David Bauer (Original: Glenn Greenwald: «I don’t trust the UK not to arrest me. Their behaviour has been extreme»)
Quellen
Aus dem Englischen übersetzt von David Bauer. Original: Glenn Greenwald: ‚I don’t trust the UK not to arrest me. Their behaviour has been extreme‘