Im 16er vom Zauberberg ins Bullseye der Stadt

Diesen Sommer erkunden wir Basel per Drämmlifahrten, jeweils von einer Endstation zur anderen. Die soziologischen Betrachtungsversuche gehen in die nächste Runde. Mit der Linie 16 gibts die Fahrt vom Bruderholz zur Schifflände und bietet Augenfutter sondergleichen. Dazu gibt’s ein Video – live aus der Führerkabine.

Wir fahren mal wieder Tram. Diesmal mit dem 16er vom Bruderholz zur Schifflände. (Bild: Nils Fisch)

Das Drämmli bietet bei der Fahrt durch die unterschiedlichsten Quartiere die Möglichkeit zu soziologischen Betrachtungen. Wir fahren deshalb in den kommenden Wochen immer wieder einmal von einer Endstation zur anderen und berichten, was wir auf den verschiedenen Linien beobachten. Nun ist der 16er an der Reihe.

Endstation Bruderholz. Hier thront der Zauberberg über der Stadt Basel. Realität und Zeit rutschen seltsam verwackelt im Kopf umher. Alles ist anders hier oben: stille Robustheit. Alles scheint wie die lange Bruderholzallee für die Ewigkeit in den Boden gehämmert. Die Gegend bietet charakteristisch nicht viel Basel Stadt, sie kommt eher als Stillstand daher.

Gegen halb neun Uhr kriecht die Idylle langsam aus dem Gestrüpp, Grossmütter schieben ihre Einkaufstrolleys in Richtung Tram, hieven sie die Kante rauf. Grelle Farben in ihren Kleidern rufen «Kaffeeklatsch» in den Tag hinaus. Die ganze Zeit huschen die Augen herum. Einige Senioren scheinen aus dem Nichts zu kommen und verschwinden genauso spurlos darin.

Eine Frau, ein rotes Halstuch, steht mit dem Hundi am Rand des Trottoirs, die Sorte aus der Caesar-Werbung. Sie blickt auf grosse Häuser, eingekesselt in eine eigentümliche Mischung aus Schatten und Licht, das die Gärten einrahmt. In der Ferne liegt Basel unter Morgendunst begraben, man sieht es kaum. Nichts zu hören, keine Autos, nur Stille und die Atemlosigkeit des Mittsommers.

Das Tram füllt sich nicht sonderlich. Auf einem Einzelsitz auf der Schattenseite stützt ein Mann von mittleren Alter in Anzug den Kopf. Eine braune Ledertasche gegen die schwarzen Schuhe gekippt. Irgendwo fliegt lärmend ein Flugzeug vorbei. Die «Auf-dem-Hummel-Strasse» hinunter, zwischen Café-Streuli und «Chäs-Hummeli», schlurft noch eine alte Frau aufs Tram zu. Dann entfernt sich das Tram aus dieser Arena der Stille, dieser Pseudo-Heileweltszenerie.

Sinkfahrt durchs Grünland

An grossen Häusern rollt das Tram nun durch die Bruderholzallee in die Stadt hinunter. Vorbei an Hundesalon und Nähatelier. Die Passagiere dösen in der Morgensonne, bis auf eine verrückte alte Frau mit Gehstock. Schwarzes Band im weissen Haar. Ob einer Werbung für Medikamente stöhnt sie auf: «Wir wollen Bayer, nicht Sandoz. Bayer, nicht Sandoz», sagt sie immer wieder rhythmisch, einsam auf ihrem Zweiersitz. Sie scheint mit dem Plakat zu sprechen. «Die armen Schweine! Als Passagier unhaltbar. Hinterlistige Sauhunde!» Sie dreht sich um, der Anzugmann schaut desinteressiert aus dem Fenster, vielleicht auch desillusioniert, während das Tram nach der Haltestelle Hechtliacker an Schrebergärten vorbei zieht. Eine einzelne Fahne mit Baslerstab flattert an einer Stange. Kein Schweizerkreuz und weder italienische noch mazedonische Flagge. Eine Tunnel aus Gestrüpp umgibt das Tram – teilweise zwinkert der blaue Himmel durch die Blätter. Der Wald frisst hier beinahe die Geleise und fliegt nah an den Scheiben vorbei.

Die Station Jakobsberg liegt verlassen. Niemand steigt aus noch ein, aber ausserhalb der Sommerferien scharen sich hier Rudolf-Steiner-Schüler. Das Tram sinkt weiter stetig gegen die Stadt und auf der rechten Seite erscheint zwischen den Bäumen der erste Wohnblock des Dreispitzs. Das Publikum vermischt sich. Neben die alten Leute setzen sich nun junge im Ferienoutfit. Der Ethnienmix geht los. Tanktop und Shorts. Ein Pöstler kurvt leicht das Trottoir der Gundeldingerstrasse entlang, die sich hinter dem Tram immer länger gegen Südosten zieht.

Um eine Ecke schwenkt das Tram vorbei am Zwinglihaus, das mit seinen blauen Säulen starr im Morgen steht. Thiersteinerallee, Notting Hill im Süden Basels. Schlummernd liegen die engen, hohen Häuser schulterschlüssig nebeneinander. Schatten ruht in den Vorgärten, geworfen aus den Baumkronen der Allee.

Der Gundeldinger Umbruch

Weiter vorne sitzt die Heiliggeistkirche ein wenig unpassend mitten im Gundeli. Seit dem Baujahr 1912 hat sich das Gesicht dieses Quartiers verzerrt.  Wo früher Obst-und Getreidefelder den Übergang zum Kanton Baselland symbolisierten, Wasserschlösser vor den Mauern Basels in der Weite stille Präsenz markierten, pulsiert heute eine junge, dynamische Vene der Stadt.

An der Haltestelle verlässt die verrückte Frau das Tram und trottet entlang der Thiersteinerallee davon. Zwei alte Männer steigen zu, beide tragen sie ein wenig abgewetzte Sakkos, gestikulieren aufgeregt, werfen sich auf Französisch Beurteilung über eine Wohnung zu. Das Tram ist nun gefüllter, die Sitzplätze besetzt. Während die Güterstrasse in voller Länge dahinzieht, fliegen Restaurants, Boutiquen und Bars vorbei. Ein Pornokino, ein Brautkleiderladen – beides nur ein Sprung entfernt.

Urbanes Flair weht um die Strassen und durch die kleinen Kippfenster ins Traminnere. Der vernachlässigte Bahnhofhinterplatz, gesäumt von einigen Obdachlosen auf der rechten Seite, auf der linken die leeren Schaufenster des einstigen Nasobem.

Beim Hotel ibis verlässt das Tram das Gundeldingerfeld und fährt über die breite Brücke, über Geleise, auf denen Züge wartend stehen, wie auf dem Pausenhof. Hinter dem Bahnhof aus Südwest verdichtet sich der Sommertag und so kommt beim Anblick des französischen Bahnhofs Sehnsucht auf: Nach Süden, nach Meer. Eine warmer, mediterraner Hauch verschlingt beinahe das Tram und die Passagiere. Die Leute, die nach unten schauen – wie der Geschäftsmann mit dem Kopf in der Hand – können nur schwer den Kopf abwenden.

Dann, am Ende der Brücke, verlässt die Idylle sprungartig das Tram. Der Stilbruch ist komplett – hier beginnt der Stadtkern und bei der Haltestelle Markthalle mutiert das Muster der Fahrgäste: Banker, Jugendliche und Senioren in allen Farben vermischen sich in einsilbiger Koexistenz.

Jähes Ende im Kern der Stadt

Grosse Sonnenbrillen prangen in den Gesichtern. Eine junge hübsche Mutter, die schon auf dem Bruderholz zugestiegen war, nimmt ihre Tochter auf den Schoss. Sie sind beide blond, mit hohen slawischen Wangenknochen. Das Kind liest in einem Bilderbuch, aus dem die Farben so penetrant hervorstechen wie aus den Kleidern der Seniorinnen des Bruderholz.

Die innere Margarethenstrasse zieht weiter in den Stadtkern hinunter, vorbei am Untersuchungsgefängnis, vor dem eine Familie wartet. Eine Kamera richtet sich auf die Bank, auf der sie sitzen. Stumm schauen sie auf die Passagiere und diese argwöhnisch zurück.

Die restliche Fahrt verfliegt rasch – Heuwaage, Theater. Bei letzterem steigt der Anzugmann aus, schlendert Richtung Bankverein. Über die Anzeigetafel des kult.kino zieht der Schlussteil einer Filmwerbung: «…optimistischer Film über das Leben im Ruhestand». Die Senioren reagieren nicht, schauen nicht mal hin.

Am Barfüsserplatz steigen die meisten Menschen aus, das Tram leert sich. Einige gehen Richtung Markt vor der Barfüsserkirche. Einige rauschen anderweitig davon. Alles rauscht hier umher, vorbei, davon. Diejenigen, die sitzen geblieben sind, steigen am Marktplatz aus. Senioren ziehen ihre Einkaufstrolleys zum Globus, verschwinden zwischen Wurst- und Gemüseständen. Sie verschwinden so still, wie schon auf dem Bruderholz und scheinen verschluckt zu werden von der Stadt.

Die Schifflände ist dann bloss noch der letzte Halt vor dem Sprung ins Kleinbasel, den die Linie 16 aber nicht wagt. Es scheint, als sei die Veränderung von Bruderholz übers Gundeli bis hier ins Bullseye kurz vor der Mittleren Brücke zu viel, um sie noch weiter zu führen. Und so hört sich «Schifflände, Endstation» ein wenig falsch an hier, unvollendet. Das Tram zieht die Schleife und fährt zurück. Nimmt Rentner mit Einkaufstrolleys auf. Zieht davon gegen den Zauberberg.

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