Das Drämmli bringt einen nicht nur von A nach B, sondern bietet bei der Fahrt durch die unterschiedlichsten Quartiere auch die Möglichkeit zu soziologischen Betrachtungen. Wir fahren deshalb in den kommenden Wochen immer wieder einmal von einer Endstation zur anderen und berichten, was wir auf den verschiedenen Linien beobachten. Dazu gibt’s ein Video – live aus der Führerkabine.
Die Tramlinie 8 verbindet, respektive fährt von Kleinhüningen nach Neubad. Denn zu unterschiedlich sind die beiden Stadtteile, als dass man sie wirklich miteinander verbinden könnte. An einem Ende Kleinhüningen, das Industriequartier mit einem der höchsten Ausländeranteile Basels, am anderen die unter dem Sammelbegriff Neubad zusammengefassten Quartiere Bachletten und Gotthelf, zwei typisch schweizerische Mittelstandsquartiere.
Endstation Kleinhüningen, ein Wochentag, nachmittags um halbfünf. Kaum sind alle Passagiere ausgestiegen, füllt es sich schon wieder. Mit alten und jungen Leuten dunkler und heller Hautfarbe, darunter eine Schülergruppe in der vorpubertären Phase – ein bisschen laut und ungestüm, Mädchen und Buben sich gegenseitig neckend. Ein silbergraues Paar, das sich anschweigt, guckt verärgert. Aus dem Lautsprecher ertönt die Bitte, die Türen freizugeben, «damit wir weiterfahren können».
Tiger-BHs für fünf Franken
Die Schüler nehmen ihre Plätze ein, das Tram setzt sich in Bewegung. Das silbergraue Paar wirkt nun zufriedener, schweigt aber weiter. In der Sitzbank vor ihnen zwei Frauen um die dreissig, schwarz gekleidet beide, schwarze Hornbrillen beide. Gemeinsam diskutieren sie über A4-Blättern – ein Projekt?
Das Tram fährt an den Betriebsgebäuden von Novartis und BASF vorbei, an Minimarkets, Beizen, alten und neueren Häuserzeilen. Vor einem «Import-Export»-Laden an der Klybeckstrasse stehen Kisten mit Sonderangeboten: BHs im Tigerlook für fünf Franken, Pyjamas für zehn Franken, Badezimmerteppiche für … schon vorbei, die Fahrt geht weiter Richtung Claraplatz.
Inzwischen sind alle Sitzplätze besetzt, viele Passagiere stehen. Einige sind allein und schweigen, andere zu zweit oder zu dritt und reden. Frauen und Männer aller Altersgruppen, mit Kindern und ohne Kinder. Die Geräuschkulisse setzt sich aus vielen Sprachen zusammen, aus fremden und bekannten. Fröhliche, müde, gelangweilte und verhärmte Gesichter. Ein mittelalterlicher Mann mit Schnauz und Sitzplatz hat die Augen geschlossen, ein junger mit mehreren Ringen in der Nase und Tattos auf jedem Finger versucht, finster zu blicken.
Mit Einkäufen beladen
An der Rheingasse steigen einige aus und viele wieder ein. Das Tram fährt nun über den Rhein, verlässt das Kleinbasel. An der Schifflände erneut vielfaches Aussteigen und ebensolches Zusteigen. Von Haltestelle zu Haltestelle verändert sich das Publikum nun allmählich. Deutlich wird sichtbar: Die Menschen, die jetzt zusteigen, sind geschäftlich oder zum Einkaufen hier und machen sich auf den Heimweg. Sie sind keinem Quartier zuzuordnen.
Drei Frauen, jede mit mindestens zwei Einkaufstaschen beladen, steigen am Barfi zu. Sie reden in Solothurner Dialekt über ihre Einkäufe. Glücklich, aufgeregt. Die eine kennt sich offenbar in Basel etwas besser aus als die anderen beiden. Sie erklärt während der Fahrt den Tinguely-Brunnen, zeigt auf den Laden, wo man die berühmten Kapseln für die Kaffeemaschine kaufen kann und so weiter. Am Bahnhof wuchten sie sich mit ihren Einkäufen aus den Sitzen und verlassen das Tram. Wie die meisten.
Schichtwechel am Bahnhof
Plötzlich hat sich der Wagen geleert. Es ist jetzt kurz vor fünf Uhr und damit noch zu früh für die Rückkehr der Pendler, die in Zürich, Bern oder sonstwo arbeiten. Die Passagiere, die nun Richtung Neubad fahren, lassen sich fast an einer Hand abzählen. Zwei ältere Frauen, beide mit sorgfältig ondulierten Frisuren, beide in Hosen mit Bügelfalten, ordentlichen Blazern, eleganten Schuhen mit bequemer Absatzhöhe. Ein Jugendlicher mit Rucksack, vertieft in ein Spiel auf seinem Smartphone, und da und dort noch jemand.
Auch an den kommenden Haltestellen steigen nur vereinzelt Leute zu. Ein Renter, der wahrscheinlich wandern war. Gut ausgerüstet mit Goretex-Jacke und -Schuhen. Ein grauhaariger Mann im Jeanslook mit Kind, Typ «spätes Glück». Eine mittelalterliche Frau, die es gern bunt hat – violetter Pulli, oranger Rock, grüne Tasche. Beim Schützenmattpark eine Mutter mit Kind und Original-Like-a-bike. Unauffällig, schweizerisch, wahrscheinlich bildungsnah, ernährungs- und umweltbewusst.
Ein Mann ebenfalls mittelalterlich, der aber auf Jugendlichkeit setzt: Freitag-Tasche, Röhrli-Jeans, Hemd und Schuhe im Vintagestil. Cool und teuer. Jeder – ausser die Mutter mit Kind – sitzt für sich allein, es ist plötzlich sehr still geworden. Umso lauter ist nun das Rauschen der Klimaanlage und das Sirren des Motors. Hin und wieder unterbrochen durch ein Hüsteln von einer der älteren Damen.
Ordentlich und gepflegt
Draussen ziehen hübsche Reihenhäuser vorbei, hin und wieder ein paar Blockbauten. Das meiste sehr gepflegt. Viel Grünes, nach dem Schützenmattpark die Sportplätze, Bäume säumen die Strasse, Vorgärten und Gärten. Vor den Hauseingängen stapeln sich ordentlich abgebundene Altpapierbündel.
An der Haltestelle Neubad steigen die meisten aus, zurück bleiben die eine der älteren Damen, der Schüler mit dem Smartphone und die Schreiberin. Niemand kommt hinzu, im langen Loh verlässt auch der Schüler das Tram. Danach ist Endstation. Im Grünen. Der Chauffeur verschwindet ins Toilettenhäuschen, eine dunkelhäutige, freundlich lächelnde Frau in gelber Leuchtweste und einem Abfallsack in der Hand besteigt das Tram und sammelt ein paar liegengebliebene Zeitungen und Getränkebüchsen ein.