Im Grenzgebiet

Nächste Woche sind in der Asyldebatte im Ständerat wieder die Grenzzieher am Werk. Doch was ist überhaupt eine Grenze? Eine Antwort von Buchautor Kaspar Surber, der Schauplätze der europäischen Migrationspolitik besucht hat.

Sichtbare Grenze. Mit diesem Gebilde aus Stahl und Stacheldraht will Griechenland die Grenze zur Türkei absichern. Doch die Grenzen der Zukunft werden anders überwacht: Mit Satelliten und Drohnen. (Bild: Georg Gatsas)

Nächste Woche sind in der Asyldebatte im Ständerat wieder die Grenzzieher am Werk. Doch was ist überhaupt eine Grenze? Eine Antwort von Buchautor Kaspar Surber, der Schauplätze der europäischen Migrationspolitik besucht hat.

Das Hauptquartier der europäischen Grenzschutzagentur Frontex befindet sich im 22. Stock eines Geschäftshauses in Warschau. Eine Badgekontrolle ist zu passieren, eine Metallschleuse, eine Irisprüfung, schliesslich begrüsst der Exekutivdirektor mit der randlosen Brille, der Finne Illka Laitinen. Von seinem Büro aus ist die Aussicht schwindelerregend. Weit unten in der Tiefe, aber gut sichtbar, haben Politaktivisten wenige Tage zuvor in weissen Lettern «Frontex kills» auf ein Hausdach gemalt. «Wir leben in einem Zeitalter der Meinungsfreiheit», meint Laitinen jovial und setzt sich an den Tisch, um die Grenzüberwachung der Zukunft zu entwerfen.

Risiko und Gefahr

Es wäre falsch, unter Frontex ein europäisches Grenzwachtkorps zu verstehen. Die Agentur, der 2009 auch die Schweiz beigetreten ist, sammelt vielmehr ein bestimmtes Wissen über die Migration. Und zwar, indem sie sogenannte Risikoanalysen erstellt. Die Grenze wird von Frontex also beschrieben und gestaltet als Risiko und Gefahr. Vor allem aber ist sie ein grosses Geschäft, wie Laitinen unumwunden einräumt. «110 Millionen investiert die Europäische Union über ein Forschungsprogramm in die Grenzüberwachung und Grenzkontrolle, einen grossen Betrag.»

Die beiden wichtigsten Projekte sind das Entry-Exit-System EES und Eurosur: EES ist ein biometrisches Visasystem, das automatisch Alarm schlagen soll, wenn das Visum einer Person, die in die EU eingereist ist, abgelaufen ist. Eurosur wiederum wird die Satelliten, Radars und Drohnen aller Staaten miteinander verknüpfen, um speziell das Mittelmeer zu überwachen. Und letztlich die Staaten rund um den Schengenraum. «Es besteht die Idee, dass später Drittstaaten in das System eingebunden werden und davon profitieren können.»
Eine letzte Frage: Ist es möglich, Herr Laitinen, am European Day for Borderguards teilzunehmen, an dem sich jeweils im Frühling alle europäischen Grenzwachtkorps mit 25 Sicherheits- und Rüstungsfirmen treffen, darunter Weltmarktführer wie EADS oder Thales?

Eine stille Katastrophe

Ich reiste in den letzten zwei Jahren für ein Buch an die Schauplätze der europäischen Migrationspolitik, um zu verstehen, wie heute eine Grenze gezogen wird, die Aussengrenze des Schengenraums: Diese Grenzziehung forderte seit 1988 mehr als 18 000 Todesopfer, 2011 war das bisher schlimmste Jahr: 2352 Menschen wurden als tot oder vermisst gemeldet. Eine stille Katastrophe.

Auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa erzählten junge Tunesier von ihrer riskanten Überfahrt und ihren Plänen, die jenen der Schweizer Jugendlichen, die nach New York wollen oder Berlin, nicht unähnlich sind. In den Gesprächen wurde klar, dass die Wirklichkeit viel bunter ist als die simple Unterscheidung in politische und wirtschaftliche Flüchtlinge. Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verfolgte ich einen Prozess von somalischen und eritreischen Bootsflüchtlingen, die gegen Italien klagten, weil sie direkt nach Libyen ausgeliefert worden waren, ohne ein Asylgesuch stellen zu können. Der Prozess zeigte, dass sich die EU und auch die Schweiz jahrelang auf Diktator Muammar al-Gaddhafi verliessen, der sein Transitland für Migranten dicht machte, und dass das Asylrecht von den europäischen Staaten nicht gewährleistet ist, sondern stets aufs Neue erkämpft werden muss.

Diesen Frühling war ich in Griechenland, wo Hunderttausende Flüchtlinge festsitzen, viele von ihnen aus Kriegsgebieten wie Afghanistan oder dem Irak. Gemäss dem Dublinabkommen haben Asylsuchende in jenem Land ein Gesuch zu stellen, das sie zuerst betreten. Nur ist das in Griechenland praktisch unmöglich, pro Woche werden in der Millionenmetropole Athen nur 20 Gesuche entgegengenommen. Auf den Strassen drohen den Flüchtlingen Obdachlosigkeit, Hunger und die Gewalt der neofaschistischen Schlägergang «Goldene Morgendämmerung». Der Präsident der afghanischen Community, Muhammadi Yonous, zeigte sich über die rassistischen Übergriffe besorgt. Und er sagte einen Satz, der mir in Erinnerung geblieben ist: «Europa kann seine Zäune noch so hoch bauen. Die Migranten kommen trotzdem, nur ihre Reise wird gefährlicher.»
Der Satz ist vorsichtig, aber auch hoffnungsvoll. Dass sich nicht die Frontex-Vision der fliegenden Drohnen, Satelliten und Radars durchsetzen wird. Nicht jene der Rechtspolitiker im Bundeshaus, die mit der mittlerweile zehnten Asylgesetzrevi-sion das Gesetz weiter verschärfen. Die Verschärfungen haben allesamt wenig bewirkt, ausser dass sie die Asylsuchenden isoliert und illegalisiert haben.

Mehr als ein Zaun

Renato Beck hat in der TagesWoche nach der dumpfen Asyldebatte im Nationalrat treffend geschrieben: «Der Stacheldraht, der die Flüchtlinge dieser Welt von unserem Wohlstand fernhalten soll, geht jetzt nicht nur um die Schweiz herum, er führt mitten hindurch.» Unterwegs merkt man, dass die Grenze kein Zaun ist, der irgendwo in der Landschaft steht. Vielmehr schreibt sich die Grenze ein in die Menschen, die sie überqueren. Die Migranten werden, wenn sie es über die Grenze schaffen, in einen rechtlich niedrigeren Status versetzt. Aber sie kommen trotzdem.

Nächsten Dienstag debattiert der Ständerat nochmals über das Asylgesetz. Auf die Reduktion von Sozialhilfe auf Nothilfe für alle Asylsuchende wird er voraussichtlich verzichten, aber alle anderen Verschärfungen durchwinken, so etwa die Aufhebung des Botschaftsasyls oder die Streichung der Desertion als Fluchtgrund. Das Ziel ist die angebliche Minderung der Attraktivität der Schweiz für Asylsuchende. Wäre die viel drängendere Frage nicht diese: Was ist los in Griechenland? Welche Verantwortung trägt die Schweiz?

Die Lösung ist hier

Vielleicht könnte aus dieser Frage eine Migrationspolitik entstehen, welche die Reise für die Flüchtlinge weniger gefährlich macht. Und vielleicht könnte sich die Einsicht durchsetzen, dass die Herausforderungen zwar an den Grenzen sichtbar werden, aber nicht dort zu lösen sind. Sondern hier, im alltäglichen Zusammenleben, im Einsatz für gleiche Rechte für Sans-Papiers, für Menschen in Nothilfe, für Asylsuchende und auch für Zugewanderte, die politisch nicht mitbestimmen können.

Fluchten, Fallen, Frontex
Der Journalist Kaspar Surber (32) beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen der Migrationspolitik. Diese Woche nun erschien sein Buch «An Europas Grenze – Fluchten, Fallen, Frontex» im Echtzeit Verlag, eine lesenswerte Reise an fünf Schauplätze der europäischen Migrationspolitik. Leserinnen und Leser der TagesWoche können das Buch porto- und spesenfrei für 26 statt 29 Franken beim Echtzeit Verlag beziehen. Bestellungen unter www.echtzeit.ch/tageswoche oder mit einer Postkarte an den Echtzeit Verlag, Murbacherstrasse 34, 4056 Basel.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.09.12

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