Im Herzstück der Schweiz

Alex Capus erzählt in «Mein Nachbar Urs» unspektakuläre Geschichten über unspektakuläre Menschen im unspektakulärsten Ort der Schweiz. Gut so!

Hier schreibt er am liebsten, Alex Capus: In seiner zur Schreibstube umgebauten Gartenlaube in Olten. (Bild: André Albrecht)

Alex Capus erzählt in «Mein Nachbar Urs» unspektakuläre Geschichten über unspektakuläre Menschen im unspektakulärsten Ort der Schweiz. Gut so!

Olten ist eine hässliche Stadt. Sagen zumindest alle, die nie in Olten gelebt haben. Ein Pendlerkaff, von dem man nie mehr mitkriegt als den grauen Bahnhof, weil die ständige Nebelpampe jede Sicht erbarmungslos verschleiert. Olten ist der Nicht-Ort der Schweiz, Schauplatz vorübergehender Aufenthalte, man ist nie lange da und wenn man da ist, will man eigentlich lieber schon woanders sein. Es sei denn, es geht um das Olten in Alex Capus Geschichten. Bei Capus wird aus dem Nebelloch nämlich das Herzstück der Schweiz und der Mittelpunkt der Welt.

Pedanten und Sauhunde

So auch in Capus’ neustem Erzählband: «Mein Nachbar Urs» ist eine Sammlung von Geschichten aus dem Alltag in der Kleinstadt. Es geht um ihn und seine fünf Nachbarn, die allesamt Urs heissen (eigentlich sind es sogar 6, aber einer will nicht, dass man über ihn schreibt) und sich nach Feierabend gewöhnlich auf dem Kiesplatz des Quartiers treffen, ein paar Entrecôtes grillieren und sich über das Leben unterhalten.

Infos zum neuen Buch von
Alex Capus: «Mein Nachbar Urs», Hanser Verlag 2014.
128 Seiten.
ISBN 978-3-446-24468-9.

Es geht um Liegevelos («Die werden von bösen Menschen gefahren, Kleinmütigen, besserwisserischen Pedanten»), um Schriftsteller («indiskrete Sauhunde»), Bärlauchpesto («Bärlauch ist wie Kaufhausmusik. Die gefällt auch keinem») und politisch Pikantes («Zum Glück sind noch wir Schweizer da, die Ausländerfeindlichkeit der Ausländer zu korrigieren»), kurzum: Um Altbekanntes.

Das, worüber man sich halt unterhält, wenn man sich unterhalten will. Um nichts Besonderes. Genau wie Olten: «Ich bin ganz froh, dass Olten nichts Besonderes ist. Das hat Lebensqualität.» sagt der Autor in der Erzählung «Olten Road». Das ist eben der Reiz der Capus-Erzählungen: Sie sind weder laut, noch auffällig, noch irgendwie einzigartig. Und das ist gut so.

Von Olten in die weite Welt hinaus

Obwohl, ein paar spektakuläre Abenteuer hat sich der Autor schon einfallen lassen: In seinen «historischen Miniaturen», wie man Capus’ erzählte Lebensgeschichten kleiner Menschen in der grossen Welt so schön nennen kann, geht es aus Olten in die weite Welt hinaus. Solche Miniaturen gibt es auch in seinem neusten Streich, wo man zum Beispiel den jungen Oltnern Alfred Santschi und Adolf Hunziker auf ihrem abenteuerlichen Weg in die Fremdenlegion und zurück folgen kann. Olten – Sidi Bel Abbès retour.

Auch wenn Geschichten wie diese über die Oltner Suppe hinausgehen, bewahren sie sich doch immer den Capus’schen Sinn fürs Unspektakuläre: Santschi und Hunziker sind beide nach Olten zurückgekehrt, die Schwiegertochter Santschis arbeitet heute in der Migros Sälipark. Und nach der Episode mit Prinz Charles fährt Capus mit einem Mitsubishi-Bus voller Reportern hinter der königlichen Limousine nach Belpmoos, wo der königliche Besuch ohne sich umzudrehen ins Flugzeug steigt und verschwindet.

In solchen Momenten ist trotz Sympathisierens mit dem kleinen Mann eine gewisse Melancholie spürbar, eine Sehnsucht nach der Welt ännet Olten. Und von Zeit zu Zeit auch nach der Welt, wie sie früher einmal gewesen ist: Wenn Capus erzählt, dass ihm sein Grossvater einst zeigte, wie ein herannahender Zug klingt, wenn man sein Ohr aufs Gleis hält, und wie er sich das heute mit all den ICEs und TGVs und Dampfloks mit Hochzeitsgästen nicht mehr traut, dann schwingt eine Nostalgie mit, die man plötzlich in all seinen Geschichten wiederzufinden glaubt. Eine Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo grosses Hirnen und Chnorzen keinen Platz hat. In diesen Momenten wünscht man sich, Capus würde einen Schritt weitergehen und sich vielleicht doch wieder einmal trauen, seinen Kopf für einen Moment aufs Bahngleis zu legen.

Frühling aus der Nebelsuppe

Trotz oder gerade wegen der fehlenden Schwere ist «Mein Nachbar Urs» das ideale Buch zum Frühlingsanfang: Mit den Sonnenstrahlen kommen die Menschen und ihre Geschichten wieder ans Tageslicht und unter den vielen Familien, Studenten und Pärchen, die sich an der frischen Luft tummeln befindet sich stets auch eine kleine Gruppe von Männern, die Petanque spielen, Bier trinken und plaudern. Sie strahlen eine Behaglichkeit aus, eine Ungezwungenheit, wie sie nur unter ungestörten langjährigen Freunden entstehen kann und zu gerne würde man von Zeit zu Zeit stehenbleiben und eine Weile mithören, was da diskutiert wird.

Wer kein indiskreter Sauhund sein möchte, setzt sich also mit dem neusten Capus in die Sonne und liest sich durch die angenehm durchschnittlichen und doch meisterhaft erzählten Episoden aus dem Leben normaler Menschen. Es sind vielleicht nicht die grössten und schönsten Stories, die hier stattfinden, genauso wenig wie Olten eine auffällig grosse oder schöne Stadt ist. Aber auch in der Nebelsuppe findet das Leben statt und dieses Leben erzählt dann eben doch immer noch sehr gute Geschichten.

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