Nikolai Statkevich sitzt in Weissrussland in Haft, weil er als Kandidat gegen den amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko angetreten war. Seit zwei Jahren kämpft seine Tochter Katja für seine Freilassung.
Ab und zu klingelt das Telefon, ganz überraschend. Dann ist Katja Statkevichs Vater am anderen Ende der Leitung und erzählt, wie es ihm geht im weissrussischen Gefängnis, von seinem neuen Zellennachbarn, von seinem Alltag zwischen der schweren Arbeit in der Holzfabrik und den Nächten in der Zelle. Katja hört zu und saugt jedes Wort auf, sie reden selten miteinander.
Das Gespräch dauert immer nur ein paar Minuten, länger darf Nikolai Statkevich (56) nicht mit seiner Tochter in Deutschland sprechen, und das auch nur alle paar Wochen. Die Gefängniswärter stehen neben ihm und nehmen ihm das Telefon einfach irgendwann wieder weg. Dann ist die Leitung tot.
«Reine Willkür», sagt Katja, und es klingt, als sei es das Normalste der Welt. «Realität in Weissrussland eben» – daran ist die 32-Jährige inzwischen gewöhnt. Sie weiss, wie es in ihrer Heimat um die politische Opposition steht, denn sie ist dort aufgewachsen. «Demokratische Strukturen gibt es nicht in Weissrussland», sagt sie.
Ihr Vater bekommt das zu spüren. Er sitzt seit fast zwei Jahren im berüchtigten Gefängnis in Minsk; wegen «Aufruhrs gegen die Staatsgewalt» wurde er zu insgesamt sechs Jahren Lagerhaft verurteilt. Er ist einer von vielen politischen Gefangenen in Weissrussland, die am Tag der Präsidentschaftswahl im Dezember 2010 festgenommen wurden. Sein Vergehen: Er war gegen Präsident Alexander Lukaschenko angetreten, und er hatte am Tag der Wahl gegen das Regime protestiert.
Katja Statkevich lebt seit einigen Jahren in Deutschland, sie kam um zu studieren – und ist geblieben. Sie könne nur warten und hoffen, sagt sie. Warten, bis sie wieder etwas von ihrem Vater höre, und hoffen, dass er nicht die volle Strafe absitzen müsse. Ab und zu kommt ein Brief aus dem Gefängnis, zensiert, manchmal rufen Freunde aus Weissrussland an und erzählen, wenn sie etwas Neues gehört haben.
Damals im Dezember vor zwei Jahren nahmen sie ihn einfach mit. Polizisten zerschlugen die Scheiben des Autos, in dem Statkevich sass, zerrten ihn aus dem Wagen und verprügelten ihn. Mit Statkevich wurden an diesem Tag Hunderte Oppositionelle verhaftet. Lukaschenko hatte die Wahl haushoch gewonnen – demokratisch war an der Abstimmung rein gar nichts.
Schlägertrupps gegen Politiker
An diesem Tag sass Katja vor ihrem Computer in ihrer Wohnung im bayerischen Ingolstadt. Sie las in Blogs und Foren davon, dass die Polizei hart gegen die Opposition durchgriff. Sie las von Verhaftungen und Prügeleien, von Unregelmässigkeiten in den Wahlkabinen. «Uns war klar, dass die Stimmung am Wahltag angespannt sein würde», sagt sie heute, «aber mit so etwas hatten wir nicht gerechnet.» Die junge Frau sah Videos, in denen Polizisten Menschen verprügeln, blutverschmierte Gesichter und Leute, die gewaltsam abgeführt werden. Dass ihr Vater verhaftet wurde, erfuhr sie später von Freunden in Minsk.
Was sagt jemand, der im Gefängnis sitzt und der das, was er eigentlich sagen will, nicht sagen darf? Es bleiben nur Belanglosigkeiten. «Manchmal fängt mein Vater an, von den Haftbedingungen zu erzählen, aber nach ein, zwei Sätzen, redet er plötzlich von etwas ganz anderem», sagt seine Tochter. Dann weiss sie, dass die Aufpasser ihm ein Zeichen gegeben haben. Die Telefonate werden überwacht, ihr Vater ist nie allein. Wenn Statkevich etwas sagt, was den Polizisten nicht passt, ist das Gespräch schnell beendet. Dann lieber Gespräche über Nichtigkeiten.
Die Regierung schirmt die Gefangenen ab, nur wenige Informationen schaffen es nach draussen. Katja wusste nach der Verhaftung lange nicht, wie es ihrem Vater ging oder was genau man ihm vorwarf. Sie wusste nicht, wo er war und was man mit ihm machte. «Die ersten Monate durfte noch nicht einmal seine Anwältin zu ihm ins Gefängnis», erzählt sie. Dass ihr Vater später wochenlang in einem Hungerstreik war, erfuhr Katja über Blogger.
Wie fühlt man sich, wenn der Vater Hunderte Kilometer entfernt in einem Gefängnis sitzt, das eigentlich ein Arbeitslager ist? In dem nach Angaben von ehemaligen Insassen gefoltert wird? «Zu sagen, dass es schwer ist, wäre ziemlich untertrieben», sagt Katja. Aber was soll sie tun? Aufgeben? Resignieren? Niemals.
Deswegen tut sie aus der Ferne alles, was sie kann. Sie kämpft dafür, dass ihr Vater und die anderen politischen Gefangenen nicht vergessen werden. Noch am Tag der Wahl vor zwei Jahren begann sie, Mails zu schreiben, wandte sich an Parteien, Organisationen und an die Medien. Und sie richtete die Internetseite www.lasst-sie-frei.de ein; inzwischen haben sich hier Dutzende Politiker, Autoren, Schauspieler und Musiker an einem Appell beteiligt, der Lukaschenko auffordert, die politischen Gefangenen freizulassen.
Katja trat im Deutschen Bundestag in Berlin auf, sie organisiert Veranstaltungen und arbeitet mit internationalen Organisationen zusammen. Das alles neben ihrer Arbeit als Ingenieurin und der Doktorarbeit, die sie erst vor ein paar Monaten abgab. Ihre jüngere Schwester, die auch in Deutschland lebt, hilft ihr. Auch die zweite Frau ihres Vaters und deren erwachsener Sohn, die in Minsk leben, sowie weitere Aktivisten. Ihr gemeinsames Ziel: ein Ende der Willkürherrschaft in der Republik Belarus, wie Weissrussland offiziell heisst. Es ist ein langer Weg.
Wahlen wie zu Sowjetzeiten
Als vor ein paar Wochen ein neues Parlament in Minsk gewählt wurde, blieb die Opposition der Abstimmung aus Protest fern. Lukaschenkos Partei gewann alle Sitze und feierte sich selbst. Es war eine Wahl wie zu Sowjetzeiten: Die Opposition wurde eingeschüchtert, unabhängige Wahlbeobachter wurden ohne Grund festgenommen. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kritisierte, die Wahl sei weder frei noch unparteiisch verlaufen, die deutsche Bundesregierung sprach von einer Farce. Und Lukaschenko? Er regiert weiter, als sei nichts gewesen.
Seit Jahren versucht das Regime systematisch, die Zivilgesellschaft und mit ihr auch die junge Opposition im Land zu zerschlagen. Freie Wahlen finden nach Angaben unabhängiger Beobachter seit Jahren nicht statt. Viele oppositionelle Politiker, Aktivisten und Journalisten werden systematisch zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Über den Verbleib einiger Politiker gibt es gar keine Informationen.
Katja wird bis auf Weiteres in Deutschland bleiben, denn zurück nach Weissrussland traut sie sich nicht. Es ist zu gefährlich, sie könnte verhaftet und als Druckmittel gegen ihren Vater missbraucht werden, Familienangehörigen von anderen Gefangenen sei das schon passiert, sagt sie.
Erst vor ein paar Wochen war sie wieder in Berlin, um sich mit Politikern zu treffen. «Das Thema muss im Gedächtnis der Menschen haften bleiben», sagt Katja. «Ich kann nur immer wieder daran erinnern, was am östlichen Rand Europas passiert, mit meinem Vater und all den anderen.» Und weiter hoffen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.10.12