Im Zeichen der Zuwanderung

Die Schweiz steht vor der nächsten grossen Ausländerdebatte. Die Abstimmungen über die Initiativen von Ecopop und SVP werfen schon heute bedrohliche Schatten.

Höhere Hürden für Ausländer: In den nächsten Jahren heizen neue Überfremdungsinitiativen die Diskussionen an. (Bild: Illustration: Lukas Gloor)

Die Schweiz steht vor der nächsten grossen Ausländerdebatte. Die Abstimmungen über die Initiativen von Ecopop und SVP werfen schon heute bedrohliche Schatten.

Plötzlich waren überall überfüllte Züge. In den Leserbriefspalten, in den Parteipostillen, in den unzähligen Interviews mit Befürwortern und Gegnern der Personenfreizügigkeit. Der überfüllte Zug ist in den letzten vier Jahren (gemeinsam mit der «verstopften Strasse») zum Sinnbild der Zuwanderung geworden. Zum Sinnbild einer ungebremsten, schädlichen, gefährlichen Zuwanderung.

Am Ursprung des geflügelten Wortes steht ein Vertreter der SVP. Hans Kaufmann, Nationalrat aus Wettswil am Albis, warnte am 19. Januar 2009 im Pressedienst der Partei mit Hinweis auf «überfüllte Züge» und den «Stau-Stunden» vor der Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die Ostländer der EU. Zwei Tage später erschien in der «Neuen Luzerner Zeitung» ein Leserbrief (online nicht verfügbar) mit fast gleichem Wortlaut von einem zugewandten SVPler. Seither sind die Züge voller und voller geworden.

Die prägende Debatte

Man wird sich daran gewöhnen müssen. Nicht an überfüllte Züge (kleiner Tipp unter Pendlern: Ganz hinten und ganz vorne hat es in jedem Zug Platz), sondern an den inflationären Gebrauch von Schreckensszenarien: Die Zuwanderung aus dem Ausland wird die innenpolitische Debatte der nächsten Jahre massgeblich prägen.

Schuld daran ist eine wachsende Unzufriedenheit mit eben jener Personenfreizügigkeit, die unser Land heute so eng zu machen scheint. Seit der bilaterale Vertrag über den freien Personenverkehr mit der EU in Kraft ist, strömen jedes Jahr rund 80’000 Ausländerinnen und Ausländer in die Schweiz, um hier dauerhaft zu arbeiten und zu leben.

Die SVP ist nicht allein mit ihrem Unmut gegenüber der Zuwanderung.

Dabei ist der Widerstand gegen die zunehmend als unangenehm empfundene Zuwanderung breiter als sonst bei Ausländerthemen. Natürlich geht die SVP vorneweg – in einem Jahr werden wir über ihre Volksinitiative «Gegen die Masseneinwanderung» abstimmen, die eine Rückkehr zum alten System der Höchstzahlen pro Jahr und Ausländerkontingente fordert (ohne allerdings eine konkrete Zahl zu nennen). Doch die Volkspartei ist nicht alleine mit ihrem Unmut gegenüber der Zuwanderung aus dem Ausland.

Voraussichtlich ein Jahr später wird über die Volksinitiative der Umweltschutz-Organisation Ecopop abgestimmt. Die Initiative mit dem Namen «Stopp der Überbevölkerung – zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen» will die Zuwanderung in die Schweiz mit einer konkreten Zahl begrenzen. Die Wohnbevölkerung darf im dreijährigen Durchschnitt nicht mehr als 0,2 Prozent pro Jahr wegen Zuwanderung wachsen.

Sammelsurium von Sammlern

Von den rund 80’000 Ausländern dürften nach Ecopop nur noch 16’000 in die Schweiz kommen. Gleichzeitig verlangt die Initiative, dass der Bund zehn Prozent seiner internationalen Entwicklungshilfe in die Familienplanung der Dritten Welt investiert. Die Bandbreite der beiden Forderungen entspricht der bunten Mischung der Unterstützer der Initiative. Unterschriften sammelten grüne Politiker, bürgerliche Unternehmer, Schweizer Demokraten, Wachstumskritiker, Umweltfreunde, Ausländerfeinde – die Sympathisanten für Ecopop sind in ganz verschiedenen Ecken anzusiedeln. Und gerade darum wird die Initiative nicht chancenlos sein.

Die beiden Initiativen und die ebenfalls in den nächsten zwei Jahren anstehende Abstimmung über die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf das künftige EU-Mitglied Kroatien werfen schon jetzt bedrohliche Schatten – auch auf den Bundesrat. Voraussichtlich am nächsten Mittwoch wird er über die Ausdehnung der Ventilklausel auf die «alten» EU-Länder entscheiden und mit gros­ser Wahrscheinlichkeit zustimmen. Obwohl die Wirkung der Klausel nur eine symbolische bleibt. Die «SonntagsZeitung» hat in ihrer letzten Ausgabe aufgezeigt, dass die Arbeitgeber auf die nicht von einer Kontingentierung betroffenen Jahresbewilligungen ausweichen und die Ventilklausel damit keinerlei Bremswirkung auf die Zuwanderung hat.

Wenn der Bundesrat sie dennoch und gegen die Empfehlung der Aus­senpolitischen Kommission des Nationalrats beschliesst, denkt er an die beiden Volksinitiativen. «Er verabreicht der Bevölkerung ein Placebo. Und hilft damit indirekt den Befürwortern der beiden schädlichen Initiativen», sagt der Schaffhauser SP-Nationalrat Hans-Jürg Fehr. In ihrer Angst vor den Initiativen nehme die Regierung in Kauf, das nutzlose Instrument der Ventilklausel anzurufen, statt die Zuwanderung sinnvoll zu bremsen, den «Magneten zu schwächen», wie es Fehr sagt.

Die linken Rezepte dafür: ein entschlossener Kampf gegen Lohnmissbrauch, eine höhere weibliche Erwerbsquote («Würde jede berufstätige Frau in der Schweiz ihr Pensum um einen Tag erhöhen, wären 40 000 Stellen besetzt»), eine bessere Integration der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt und eine restriktivere Steuerpolitik für ausländische Unternehmen. Es seien nötige Massnahmen, sagt Fehr: «Die jährliche Zuwanderung entspricht momentan der Grösse der Stadt Winterthur. Bei diesem Ausmass ist eine Grenze erreicht.» Das Problem sei in der Massenpsychologie der Menschen anzusiedeln, sei ein Gefühl, das es ernst zu nehmen gelte.

Wohlstandsmüdigkeit

Nur, wie gross ist das Problem tatsächlich? Im wahren Leben (in dem auch mal 16’000 Deutsche pro Jahr wieder nach Hause gehen) und nicht nur in einem vagen Gefühl der Menschen? Nicht so gross wie es scheint, meint Gerhard Pfister, CVP-Nationalrat aus dem Kanton Zug. «Es ist ein Problem in Anführungszeichen, ein Ergebnis unserer Wohlstandsmüdigkeit.» Die CVP wird die Kampagne gegen die SVP-Masseneinwanderungs-Initiative in einem Jahr führen – und ist gleichzeitig für die Ausdehnung der Ventilklausel auf das alte Europa. «Wir suchen einen Mittelweg, um der Dramatisierung des Problems etwas entgegenzusetzen.» Pfisters Ziel: Die Grundstimmung in der Schweiz umzudrehen. Weg von der Wohlstandsmüdigkeit und hin zur Besinnung auf das «Erfolgsmodell Schweiz». «Wir haben die Probleme eines erfolgreichen Landes. Das muss uns bewusst sein. Und wir dürfen die Rezepte, die zu unserem Erfolg geführt haben, nicht grundsätzlich infrage stellen.»

Quellen

Website der SVP-Initiative und der Ecopop-Initiative.

Die Angst vor der Überfremdung – Artikel in der NZZ.

Die «Rundschau» über die Ecopop-Initiative.

Ein Kommentar in der «Aargauer Zeitung» über die Angst vor der Zuwanderung.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.04.13

Nächster Artikel