Kairo ist nicht Ägypten. An andern Orten ist von der aufgeheizten Stimmung viel weniger zu spüren, wie ein Besuch in Assuan, der südlichsten Metropole des Nillandes, zeigt. Hier wünscht man sich Stabilität – und wieder eine bessere Auslastung der Hotelbetten.
Mehr als einen Kilometer lang ist die Lastwagenkolonne vor einer Tankstelle an der Flughafen-Strasse in Assuan. Auch in der Gegenrichtung stehen unzählige Minibusse und Taxis Schlange. Nichts bewegt sich. Die Einfahrt bleibt blockiert. An den Zapfsäulen ist weder Diesel noch das günstige 80-Oktan-Benzin vorrätig. «Es gibt eben keine Stabilität in Ägypten», erklärt ein Chauffeur den Grund für die akute Treibstoffkrise, die in Oberägypten besonders gravierend ist.
Lebensader Niltourismus
Ruhe und Stabilität, das hätten sie hier gerne. Die Metropole ganz im Süden lebt vom Tourismus, genauer gesagt von den Nilkreuzfahrten, und dieses Segment hat nach der Revolution besonders gelitten. Von 107 Prozent, also überbelegt, sei nach der Revolution im Frühjahr 2011 die Auslastung eines Luxushotels auf zwei Prozent eingebrochen, nennt ein Tour-Organisator ein Beispiel. Tausende Einheimische haben als Hotelangestellte, Chauffeure, Kutschenfahrer oder Kapitäne von Feluccas, den traditionellen Segelbooten, ihre Arbeit verloren. Wer noch Arbeit hat, muss sich oft mit tiefen Löhnen und schlechten Preisen begnügen.
In der Zwischenzeit ist die Talsohle durchschritten und eine leichte Belebung spürbar. Etwa die Hälfte der 240 Nilkreuzfahrtschiffe – allerdingt meist nur zur Hälfte voll – seien wieder auf der Strecke zwischen Luxor und Assuan unterwegs, erklärt ein örtlicher Hotelmanager. «Aber jetzt sieht die Welt aus Ägypten wieder täglich Bilder von Schlägereien, Tränengas und Massendemonstrationen. Das ist Gift für unsere Industrie», beschreibt er seine Angst, die Erholung könnte gefährdet sein.
Deshalb ist die grosse Mehrheit der Bevölkerung daran interessiert, dass solche Bilder mindestens nicht aus ihrer Stadt kommen. Einige haben sogar eine richtige Aversion gegen die Revolution. Eine Gruppe junger Ägypter wurde kürzlich, wie sie einer lokalen Zeitung schilderten, in einem der nubischen Dörfer auf einer Nil-Insel beleidigt und sogar tätlich angegriffen, weil der Mann glaubte, sie gehörten zu einer Revolutionsorganisation.
Aber auch Assuan hat seinen «Märtyrer-Platz». Es ist der grosse Platz vor dem Bahnhof. Während in andern ägyptischen Städten zu Tausenden für und gegen Präsident Mohammed Morsi demonstriert wird, halten hier an einem Abend etwa zwei Dutzend Anhänger der Muslimbrüder einige Transparente mit den Bildern ihrer Erzfeinde aus der Opposition hoch. Die Gäste der nahegelegenen Kaffehäuser nehmen keine Notiz. «Morgen schlafen wird den ganzen Tag», sagt ein Restaurantbesitzer am Vorabend eines angekündigten «Millionenmarsches» in Kairo. Die Stimmung ist viel weniger aufgeheizt. Über die Fernsehschirme flimmern auch nicht überall die endlosen politischen Diskussionen wie andernorts.
Bruchlinien in der Gesellschaft
«Wenn in Kairo etwas passiert, dauert es eine Woche bis wir hier reagieren», meint der Tour-Organisator. Nachdem Dutzende von ihnen einen Monat im Garten des Gouverneursamtes campiert hatten, konnten lokale Aktivisten Ende Oktober einen Erfolg verbuchen. Der Präsident setzte Gouverneur Mustafa al-Sayed ab, dem sie enge Beziehungen zum alten Regime, aber auch Korruption und Versäumnisse bei der Bereitstellung von Infrastruktur und staatlichen Dienstleistungen vorgeworfen hatten.
Für einen Boykott des Verfassungsreferendums haben in den letzten Tagen auch in Assuan über 2000 Menschen demonstriert. 75 Prozent, einer der höchsten Werte in der ersten Runde, haben dann aber am letzten Samstag mit Ja gestimmt. Die Polarisierung zwischen den Islamisten auf der einen und den Linken, Liberalen und alten Mubarak-Eliten auf der andern Seite ist hier weniger ausgeprägt, denn in Oberägypten verlaufen die Bruchlinien traditionell entlang von grossen Familien und Clans. Kommt es hier zu Streit und Gewalt, sind solche Fehden meist der Auslöser.