In Frankreich hat sich der Mindestlohn längst etabliert

Frankreich hat eine lange Erfahrung mit dem Mindesteinkommen. Auch die Arbeitergeber stellen es nicht mehr infrage. Hingegen verlangen sie eine abgestufte Lohnhöhe für Berufseinsteiger.

Demonstration gegen die Rentenreform in Frankreich. Wenn der Mindestlohn in Frankreich runtergeschraubt würde, könnten der Regierung ähnliche Proteste drohen. (Bild: GUILLAUME HORCAJUELO)

Frankreich hat eine lange Erfahrung mit dem Mindesteinkommen. Auch die Arbeitergeber stellen es nicht mehr infrage. Hingegen verlangen sie eine abgestufte Lohnhöhe für Berufseinsteiger.

Kaum ein Franzose weiss, was «Smic» eigentlich heisst – aber alle wissen, was es ist: der Mindestlohn, auf den Erwerbstätige in Frankreich Anspruch haben. Das «Salaire Minimum Interprofessionnel de Croissance» wird seit 1950 ausbezahlt und jährlich der Teuerung angepasst, manchmal auch aus politischen Rücksichten darüber hinaus. Derzeit beträgt es 9,53 Euro pro Stunde oder 1445 Euro brutto im Monat; umgerechnet wären das 1762 Franken.

Das klingt nach wenig im Vergleich zu den 4000 Franken der Schweizer Initiative. Eine einfache Milchbüchleinrechnung zeigt allerdings, dass die Beträge ähnlich wären: In Frankreich beträgt der Mindestlohn 60 Prozent des Medianeinkommens, in der Schweiz 63 Prozent.

Mehr als drei Millionen beziehen den Mindestlohn

In Frankreich ist das Smic vor allem im Gastgewerbe, im Einzelhandel und in der Landwirtschaft verbreitet. Mehr als drei Millionen Angestellte beziehen es in Frankreich; das sind insgesamt 13 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung.

Die Debatte über den Sinn des Smic ist so alt wie die Institution selbst. Es ist kein Wunder, dass das Land der égalité, das so stolz auf seinen Sozialstaat ist, nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Mindestlohn-Pionieren gehörte. Heute gehört das Smic zu Frankreich wie das Baguette-Brot.

Mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit ist die Debatte allerdings sehr politisch geworden. Der französische Unternehmerverband Medef kämpft längst nicht mehr für die Abschaffung des Smic. Aber er bezeichnet den Mindestlohn als «Arbeitsplatzvernichter». Als die Regierung das Smic auf den 1. Januar 2014 um ein Prozent erhöhte, rechnete das arbeitgebernahe Forschungszentrum Crest vor, dass dies im Tieflohnsektor 15’000 bis 25’000 Arbeitsplätze kosten werde: Viele Kleinfirmen verzichten auf die Einstellung neuer Mitarbeiter, weil sie das Smic-Niveau nicht bezahlen könnten.

Gewerkschaften verteidigen «Smic»

Gewerkschaften kontern mit zwei Gegenargumenten. Erstens betreffe das Smic vor allem Arbeitskräfte, die nicht mechanisiert werden könnten, wie etwa Supermarktkassiererinnen oder Zimmerfrauen in Hotels. Deshalb empfehlen die Arbeitnehmerorganisationen, eher bei anderen Ausgabeposten wie etwa Managerlöhnen zu sparen.

Zweitens sehen linke Ökonomen im Smic auch einen volkswirtschaftlichen Vorteil. Denn Mindestlohnbezieher sparen naturgemäss weniger als Gutverdiener; sie geben ihr Geld eher aus, sodass ein erhöhter Smic vollumfänglich in den Binnenkonsum fliesst. Das kurbelt die Wirtschaft an und schafft Arbeitsplätze.

Deshalb ist bis heute umstritten, ob und wie stark der Mindestlohn Arbeitsplätze kostet. Laut Arbeitsmarktspezialisten ist letztlich die Höhe des Mindestlohns ausschlaggebend: Ab einem gewissen Niveau vernichte das Smic mehr Stellen, als es schaffe; darunter sei es jedoch konjunktur- und jobfördernd.

Die jobhemmende Wirkung muss kompensiert werden

Die OECD, die früher eindeutig gegen den französischen Mindestlohn war, differenziert in ihren neuen Studien ebenfalls; sie ist nicht mehr völlig dagegen, setzt allerdings die optimale Höhe des Mindestlohns bedeutend tiefer an als Gewerkschaften.

Rechts- wie Linksregierungen versuchen seit Jahrzehnten, den Nachteil des Mindesteinkommens – das heisst die jobhemmende Wirkung – wettzumachen: Sie senken die Firmen- und Sozialabgaben auf tiefe Einkommen massiv. Premierminister Manuel Valls will diese Abgaben sogar «auf null» senken, wie er bei seinem Regierungsantritt Anfang April sagte. Das vermindert die Kosten für eine Einstellung und erleichtert es Firmen, neue Mitarbeiter zum Mindestlohn anzustellen.

Diese Lösung stösst in Frankreich aber ebenfalls und gerade bei Gewerkschaften auf Kritik. Denn viele Arbeitgeber stellen neue Angestellte nur noch auf Smic-Niveau ein; und da sie bei höheren Löhnen auch höhere Abgaben zahlen müssen, sträuben sie sich noch heftiger gegen Lohnerhöhungen. Im Gastgewerbe arbeitet daher bereits die Hälfte aller Angestellten auf Smic-Niveau, im Einzelhandel ist es ein Drittel.

Die Debatte ist noch nicht vom Tisch

Die Linke prangert die «Smicardisierung» ganzer Branchen seit langem an. Die Arbeitgeber regen ihrerseits eine stärkere Abstufung der tieferen Löhne an. Der Medef verlangt insbesondere ein «smic-jeune», das heisst einen speziellen Mindestlohn für Junge und Berufseinsteiger, der nicht einmal die Hälfte des Smic erreichen würde und etwa bei 600 bis 700 Euro läge, umgerechnet bei 800 Franken. Medef-Vorsteher Pierre Gattaz erklärte dieser Tage, ein solches Minisalär könnte für Berufseinsteiger während einer einjährigen «Übergangsfrist» gelten.

Valls erteilte diesem Vorstoss aber am 16. April eine Abfuhr. In Zeiten, da Nachbarländer wie Deutschland oder die Schweiz über die Einführung eines Mindestlohnes nachdenken, will der sozialistische Premierminister keine Hand bieten, um das französische Smic zu reduzieren. Die Debatte ist in Frankreich aber keineswegs vom Tisch.

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