«In Griechenland hast du zwei Möglichkeiten: Demonstrieren und eingesperrt werden oder wählen»

Was denken Griechen in Basel über den Wahlsieg von Syriza? Ein Basler in Athen chattet mit einem Griechen in Basel am Wahlabend des 25. Januar 2015. Ein Demokratie-Diskurs über Facebook.

(Bild: Ingo Starz)

Was denken Griechen in Basel über den Wahlsieg von Syriza? Ein Basler in Athen chattet mit einem Griechen in Basel am Wahlabend des 25. Januar 2015. Ein Demokratie-Diskurs über Facebook.

Griechenland hat gewählt. Unser Autor Ingo Starz lebt seit einigen Wochen in Athen, er hat die Wahlen vor Ort begleitet und sich dann an den Computer gesetzt, um herauszufinden, was die Exil-Griechen über die Wahl denken. Ein Facebook-Chat zwischen Athen und Basel. 

22:25, Athen – Nachricht von Ingo Starz:

Hallo Tassos
Ich bin noch immer ganz aufgeregt und aufgewühlt von meinen Erlebnissen am Athener Wahltag. Ich bin erst nach 16 Uhr von Ilisia in die Innenstadt aufgebrochen und hatte eigentlich nur ein Ziel: das Syriza-Wahlkampfzelt am Karitsi-Platz. Gleich als ich aus der Metrostation Panepistimiou trat, sah ich ein Grossaufgebot an internationalen Medienvertretern. Im Zelt überwogen zunächst noch die Anhänger von Syriza, je näher aber die Schliessung der Wahllokale rückte, desto mehr Journalisten drängten hinein. Ab 18.30 Uhr war dort kein Durchkommen mehr. Als um 19 Uhr die ersten Prognosen, die einen Wahlsieg mit 35,5 bis 39,5 % der Wählerstimmen verhiessen, via Fernsehen auf einer Grossleinwand bekannt wurden, brach die Menge in enthusiastischen Jubel aus. Mich selber überkam ein Gänsehautgefühl und eine unbestimmte Freude. Einen Moment später dachte ich, dass ich mich niemals mehr als Europäer empfunden habe als hier und jetzt. Dieses Gefühl wurde fraglos von der Internationalität der Anwesenden mitverursacht. Neben Medienleuten aus aller Welt waren auch zahlreiche Vertreter europäischer Linksparteien angereist, etwa aus Italien, Spanien, Deutschland oder Frankreich. Sie alle wollten miterleben, wie die Griechen ein Zeichen setzen gegen eine vom Kapital bestimmte Politik. Und wie erwartet wählte Griechenland Syriza und deren Hoffnungsträger Alexis Tsipras. Ein historischer Tag für das Land und vielleicht auch für Europa. Wie erlebst du den Wahlabend aus der Ferne? Schauen Kostas und du die aktuellen Berichte im Fernsehen?

22:34, Basel – Nachricht von Tassos T.:

Hallo Ingo
Ich verstehe deine Gefühle, die von den Ereignissen vor Ort hervorgerufen wurden. Man kann sich dem Freudentaumel einer Menge kaum entziehen, wenn man mittendrin ist. Ich habe jedoch gemischte Gefühle angesichts der Wahlergebnisse in meinem Land, die ich zusammen mit meinem Bruder vor dem Fernseher mitverfolge. Es steht ausser Frage, dass das Resultat ein Hoffnungszeichen setzt, ich bleibe dennoch realistisch und skeptisch hinsichtlich des politischen Handlungsspielraums.

22:42, Athen – Nachricht von Ingo Starz:

Dann benenne mir bitte genauer die Gründe für deine gemischten Gefühle. Teilt Kostas deine Meinung? Natürlich haben mich, als ich vorher bei Syriza war, zunächst einmal der Ort und die Menschen in ihren Bann gezogen. Die ganze Welt schaut heute nach Griechenland. Anderseits kann ich aber die Hoffnung vieler Griechen sehr gut verstehen und bin selber auch überzeugt, dass nur Syriza Bewegung in die schwierige politische und ökonomische Situation bringen kann. Mit diesem Wahlergebnis, das dem linken Bündnis aktuellen Hochrechnungen nach 36-36,5 % der Stimmen bringt, ist ein Zeichen gesetzt. Darauf haben die Linken in ganz Europa gewartet. Wir werden sehen, was die mit Spannung erwarteten spanischen Wahlen im November bringen werden. Einig sind wir uns wohl darin, dass Europa Veränderungen dringend nötig hat.

22:58, Basel – Nachricht von Tassos T.:

Einerseits habe ich die Hoffnung, dass dieses Wahlergebnis in progressiver Weise die europäische Politik beeinflusst, andererseits überkommt mich Grauen angesichts der Stimmenprozente für die nazistische «Goldenen Morgenröte» und kleinere linksextreme Parteien. Mein Bruder, mit dem ich völlig übereingehe, ist sehr gespannt auf die Politik der kommenden, neuen Regierung. Deren erste Schritte müssen sozial, demokratisch und fair sein.

23:05, Athen – Nachricht von Ingo Starz:

Was du zur Parteienlandschaft sagst, ist ganz richtig: Jede Stimme für eine nazistische Partei ist eine zu viel. Und selbstverständlich ist das Hoffnung weckende Wahlergebnis das eine, die Umsetzung der Wahlversprechen aber das andere. Heute spüre ich in Athen aber erst einmal grosse Freude bei vielen Menschen, ja auch so etwas wie einen Aufbruchsgeist. Und das ist in Zeiten der Krise grossartig, meine ich. Zu den Rechtsextremen ist zu sagen, dass sich diese in letzter Zeit leider in vielen europäischen Ländern breit machen, ich erinnere nur an Ungarn, die Niederlande, Frankreich oder auch Deutschland. Das politische Spektrum tendiert seit einigen Jahren stärker zu extremen Positionen, was schon einiges über den Zustand des Kontinents aussagt. Du hast mir einmal erzählt, dass dich das politische System der Schweiz interessiert und fasziniert. Könntest du dies etwas ausführen?

Verglichen mit Griechenland gibt mir die Schweiz viel mehr das Gefühl, dass Menschen in der Lage sind, Dinge zu verändern und sie dafür nicht auf einen Messias warten müssen.

23:19, Basel – Nachricht von Tassos T.: 

Bedauerlicherweise ist mein Deutsch noch nicht gut genug, so dass ich den Nachrichten und politischen Vorgängen nicht vertieft folgen kann. Ich bin aber über das hiesige System informiert, über die Art und Weise, wie es funktioniert und über die Grundprinzipien. Verglichen mit Griechenland gibt mir die Schweiz viel mehr das Gefühl, dass Menschen in der Lage sind, Dinge zu verändern und sie dafür nicht auf einen Messias warten müssen.

23:27, Athen – Nachricht von Ingo Starz:

Deinem letzten Punkt möchte ich entgegenhalten, dass momentan Menschen in einigen Ländern auf einen Messias zu warten bzw. zu vertrauen scheinen. Denk nur an Le Pen in Frankreich, Blocher in der Schweiz… und vielleicht auch an Tsipras in Griechenland. Glaubst du nicht, dass Syriza Deinem Land zu einer Erneuerung verhelfen kann? Du kennst es besser als ich. Wo siehst du die Hauptprobleme in dessen politischer Struktur? Und andererseits: Verdankt sich das Funktionieren der Schweiz nicht wesentlich deren Wohlstand? Ich habe, das mag Dich befremden, keine Gefühle für die Schweiz. Mir erscheint das Land zu selbstgefällig und auf sich konzentriert. Obwohl so viele Ausländer dort leben, mangelt es z.B. an einem überzeugten Engagement für Europa. Am Schluss läuft immer alles auf eine Kosten-/Nutzenrechnung hinaus. Mir fehlt dieses Geschäftsmodell, als welches es ein deutscher Politiker einmal bezeichnete, nicht.

23:48, Athen – Nachricht von Ingo Starz:

Hey Tassos, du solltest etwas an Tempo zulegen.

23:55, Basel – Nachricht von Tassos T.:

Ich meine nicht, dass es Menschen gibt, die auf Blocher oder Tsipras warten, sondern dass das System der Schweiz Prinzipien der Demokratie garantiert, die von den Bürgern relativ leicht genutzt werden können. Dies geschieht nicht in Griechenland. Dort hast du zwei Wahlmöglichkeiten: Entweder demonstrierst du für demokratische Prinzipen und Rechte unter der Gefahr, von der Polizei eingesperrt zu werden, oder du wählst alle vier Jahre. Liessen sich die Schweizer verbieten, vier Mal im Jahr abzustimmen? Wohl kaum. Ich denke, dass die Krise der letzten Jahre einen Teil der Griechen hat progressiver und politischer werden lassen. Darin sehe ich die Chance für eine Erneuerung des Landes, nicht in der Person von Tsipras. Kostas ist ausserdem der Überzeugung, dass ein Mangel an Kommunikation im alltäglichen Leben der Hauptgrund sei, dass den Menschen bis anhin das Interesse fehle, einander zuzuhören. So mangle es der Gesellschaft an Respekt vor sich selber. Gleichwohl sehen wir, dass es nun andere Verhaltensweisen gibt, die Hoffnung aufkommen lassen.

00:01, Athen – Nachricht von Ingo Starz:

Der erwähnte Mangel an Kommunikation ist ein interessanter Punkt. Aber ist die Situation in der Schweiz im Vergleich einfach nur als gut zu bezeichnen? Arbeiten dort Parteien, Parlament und Volk etwa so reibungslos und effizient zusammen? Ich sehe, dass auch dieses System Probleme in sich birgt, die gerade dann zutage treten, wenn der Populismus um sich greift (dessen sich die SVP so gekonnt bedient). Oder wollen wie im Minarettverbot oder der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative positive Signale sehen? Sicherlich nicht. Da die Zeit dahingeht, nur noch eine letzte Frage: Wo werden dein Bruder und du in fünf Jahren sein? Seid Ihr dann vielleicht wieder in Griechenland?

00:01, Basel – Nachricht von Tassos T.:

Entschuldige bitte, Ingo, ich strenge mich wirklich an, schnell zu antworten. Aber mein Bruder und ich diskutieren tatsächlich deine Fragen und Punkte. Demokratie braucht Zeit…:-))

00:02, Athen – Nachricht von Ingo Starz:

Die griechischen Brüder üben Demokratie in Basel. Was soll man dazu sagen. 🙂

00:12, Basel – Nachricht von Tassos T.:

Populismus existiert überall und natürlich sind deine Beispiele treffend für eine bestimmte Facette der Demokratie. So magst du mit deinen kritischen Bemerkungen Recht haben. Bildung und Kultur sind jedenfalls in jeder Gesellschaft die wichtigsten Faktoren im Kampf gegen Populismus. Kostas und ich wissen nicht, was das Leben uns bringen wird und können darum keine Prognose für die nächsten Jahre abgeben. Ich habe nach vielen Anstrengungen meinen Alltag in der Schweiz gut in den Griff bekommen und habe das nötige Auskommen. Ich denke daran, hier zu bleiben. Kostas würde wohl, wenn sich die Verhältnisse in Griechenland bessern sollten, über eine Rückkehr nachdenken. Danke für den Chat, Ingo.

00:13, Athen – Nachricht von Ingo Starz:

Ich habe Kostas und dir sehr zu danken für eure interessanten Gedanken. Kalinichta.

00:13, Basel – Nachricht von Tassos T.:

Gute Nacht!

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Ingo Starz stammt aus Deutschland, lebte lange Jahre als Kulturwissenschaftler in Basel. Vor kurzem übersiedelte er nach Athen. Tassos T. stammt aus Griechenland, ist Musiker und lebt seit zwei Jahren in Basel. Vor drei Monaten kam auch sein Bruder Kostas hierher.

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