In der Türkei leben etwa 2,5 Millionen syrische Flüchtlinge. Doch die Aufnahme der Menschen stellt das Land vor wachsende Probleme. Vor allem hapert es bei der Einschulung der Flüchtlingskinder. Auch auf dem Arbeitsmarkt gibt es Spannungen.
Kilis: Früher kannten selbst viele Türken diesen Ortsnamen nicht. Die Stadt liegt im Südosten des Landes. Keine zehn Kilometer sind es von hier zur syrischen Grenze. Vielleicht kommt Kilis bald zu Weltruhm. Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP hat die Stadt für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
Kilis hat heute 223’000 Einwohner, gut doppelt so viele wie vor fünf Jahren. 117’000 von ihnen sind syrische Flüchtlinge – mehr als die ursprüngliche Bevölkerung. «Die Bewohner teilen alles mit den Flüchtlingen, es gibt keinerlei Feindseligkeit», sagt der AKP-Politiker Ayhan Sefer Üstün, auf den die Nobelpreis-Initiative mit zurückgeht. «Das macht Kilis zu einem Vorbild für die ganze Welt.»
Die Türkei beherbergt etwa 2,5 Millionen syrische Flüchtlinge – mehr als jedes andere Land. Die Behörden in Ankara beziffern die Kosten auf bisher rund zehn Milliarden Dollar. Gut 285’000 Syrer leben in 25 Flüchtlingslagern, die von der staatlichen Behörde für Katastrophenhilfe (AFAD) betrieben werden. Die Lager gelten als vorbildlich. Die AFAD und die nicht-staatlichen türkischen Hilfsorganisationen haben grosse Erfahrung mit dem Aufbau und Betrieb solcher Lager, weil die Türkei immer wieder von verheerenden Erdbebenkatastrophen mit Hunderttausenden Obdachlosen heimgesucht wird.
Über zwei Millionen Menschen leben nicht in Lagern, sondern unter den Türken.
Die meisten Flüchtlinge, etwa 2,2 Millionen, leben jedoch ausserhalb der Camps, verteilt nahezu auf das ganze Land, zwischen Südostanatolien und Istanbul im Westen. Sie haben Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung. Sprachkurse oder andere Integrationshilfen gibt es aber nicht. Man ging davon aus, dass die Flüchtlinge bald wieder gehen. Doch danach sieht es inzwischen nicht mehr aus. «Sie werden auf Dauer hierbleiben, und deshalb müssen wir jetzt die Probleme dauerhaft lösen», sagt Vizepremier Numan Kurtulmus.
Ein grosses Problem ist die Schulbildung. Hilfsorganisationen schätzen, dass unter den Flüchtlingen rund 700’000 schulpflichtige Kinder sind. Von ihnen geht weniger als ein Drittel zur Schule. In den Lagern gibt es zwar Schulen. Dort liegt die Einschulungsrate bei über 90 Prozent. Von den ausserhalb der Camps lebenden Kindern geht aber nur jedes vierte zum Unterricht, obwohl Flüchtlingskinder seit 2014 Zugang zu türkischen Schulen haben. Indes: Es gibt nicht genug Klassen. So konnten von 41’000 syrischen Kindern in der Grenzstadt Reyhanli bisher erst 13’000 in türkischen Schulen untergebracht werden. Jetzt baut die Regierung behelfsmässige Schulen aus Wohncontainern für 28’000 Kinder.
Es mangelt an Klassen für die rund 700’000 schulpflichtigen Kinder.
In den Grenzprovinzen gibt es noch die geringsten Integrationsprobleme. Hier lebt traditionell eine grosse arabische Minderheit türkischer Nationalität. In der Provinz Hatay, die 1939 vom syrischen Mandatsgebiet der Türkei zugeschlagen wurde, leben sogar überwiegend arabische Alewiten. Es gibt viele Verwandtschaftsbeziehungen über die Grenze hinweg. Viele Flüchtlinge fanden deshalb Aufnahme bei Verwandten auf der türkischen Seite der Grenze.
So problemlos, wie sie offiziell dargestellt wird, ist die Integration aber selbst in Provinzen wie Hatay nicht, und erst recht nicht in anderen Landesteilen. «Die Hälfte der Bevölkerung von Kilis, ein Viertel der Bewohner in Sanliurfa und mehr als ein Fünftel der Menschen in Gaziantep sind Syrer», rechnet Numan Özcan vor, der Türkei-Direktor der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. «Die Infrastruktur dieser Städte ist inzwischen hoffnungslos überlastet, vor allem im Erziehungs- und Gesundheitswesen und bei sozialen Dienstleistungen.»
Das grösste Problem ist die Arbeit
Für Spannungen sorgt vor allem, dass die Flüchtlinge den Einheimischen Arbeitsplätze streitig machen. Die Türkei gewährt den Syrern offiziell keinen Flüchtlingsstatus, sie geniessen als «Gäste» nur «vorläufigen Schutz». Sie durften deshalb bisher auch keine Arbeit annehmen. Also arbeiteten sie schwarz, mit stillschweigender Duldung der Behörden. Der gesetzliche Mindestlohn in der Türkei beträgt 1300 Lira brutto, umgerechnet knapp 430 Franken. Syrische Flüchtlinge verdingen sich oft für weniger als die Hälfte. «Das drückt das Lohnniveau und gefährdet den Arbeitsfrieden», sagt ILO-Direktor Özcan.
Künftig können syrische Flüchtlinge nach sechs Monaten im Land eine Arbeitserlaubnis beantragen. So sollen Schwarzarbeit und Lohndumping bekämpft werden. In der EU knüpft man daran die Hoffnung, dass mehr syrische Flüchtlinge einen Anreiz haben, in der Türkei zu bleiben statt nach Europa zu kommen. In der türkischen Bevölkerung ist die Neuregelung aber unpopulär. Das zeigt eine Untersuchung der Hacettepe-Universität in Ankara vom September 2015. Danach sind 48 Prozent der Türken gegen Arbeitserlaubnisse für Syrer. Dass «Syrer uns unsere Jobs wegnehmen», glauben 54 Prozent der Befragten. 50 Prozent sagen: «Es würde mich stören, einen Syrer als Nachbarn zu haben.» Fast 71 Prozent meinen, dass «die türkische Wirtschaft unter unserer Hilfe für Syrer leidet».
Die Türkei lässt aktuell nur medizinische Notfälle ins Land.
Die jüngsten Kämpfe um die Stadt Aleppo, bisher eine Hochburg der Regime-Gegner, haben eine neue Flüchtlingswelle ausgelöst. Rund 100’000 Menschen sind bereits zur türkischen Grenze geflohen, wo sie auf der syrischen Seite in provisorischen Lagern ausharren. Türkische Hilfsorganisationen versorgen die Flüchtlinge. Die Türkei lässt vorerst nur medizinische Notfälle ins Land. «Die Grenze unserer Aufnahmemöglichkeiten ist erreicht», sagt Vizepremier Kurtulmus.
Schon im vergangenen Jahr hatte die türkische Regierung vorgeschlagen, auf syrischem Territorium eine Schutzzone für Flüchtlinge zu schaffen. Die Grenzschliessung und der Bau der Flüchtlingslager ist offenbar ein erster Schritt in diese Richtung. Damit verfolgt die Türkei eine Doppelstrategie: Die geplante Schutzzone soll den Zustrom weiterer Flüchtlinge bremsen – und zugleich die Pläne der syrischen Kurden vereiteln, an der Grenze zur Türkei eine Autonomieregion zu etablieren. Denn die syrische Kurdenorganisation PYD gilt in Ankara als Ableger der als Terrororganisation verbotenen PKK.